Zufallsentdeckung: Halbleiter überschreitet das Tempolimit
Ohne Halbleiter geht in der modernen Elektronik gar nichts. Ein Forschungsteam der Columbia University hat nun durch Zufall den schnellsten und effizientesten Halbleiter der Welt entdeckt. Dieser könnte dazu beitragen, grundsätzliche Mängel bei Halbleitern zu beheben.
Durchbruch in der Materialwissenschaft: Ein Team von Chemikerinnen und Chemikern hat den bisher schnellsten und effizientesten Halbleiter entwickelt. Die rekordverdächtige Leistungsfähigkeit des Halbleiters wird dadurch erreicht, dass er auch bei Raumtemperatur eine minimale Gitterschwingung aufweist. Dies ermöglicht den Transport von Ladungen durch sogenannte Quasiteilchen, einer besonderen Form von Ladungsträgern. Die Forschungsergebnisse, die das Potenzial haben, die Elektronikbranche zu verändern, wurden in der renommierten Fachzeitschrift „Science“ vorgestellt.
Bisherige Halbleiter haben ihre Grenzen
Halbleitermaterialien, insbesondere Silizium, bilden das Fundament unserer digitalen Welt. Sie sind zentral für die Funktionsweise von Computern, Smartphones und zahlreichen anderen elektronischen Geräten, die unseren Alltag prägen – nicht zuletzt das Gerät, auf dem Sie gerade diesen Text lesen. Trotz ihrer weitverbreiteten Nutzung stoßen Halbleiter jedoch an technische Grenzen.
Die atomare Struktur jedes Materials, einschließlich Halbleiter, ist von Natur aus in Bewegung. Diese Vibrationen führen zur Entstehung von sogenannten Phononen – Quantenteilchen, die eine wesentliche Rolle in der Physik der Festkörper spielen. Phononen verursachen eine Streuung der Teilchen, die in elektronischen Geräten für den Transport von Energie und Informationen verantwortlich sind. Diese Teilchen können Elektronen sein oder Paare aus Elektronen und deren Fehlstellen, die als Exzitonen bekannt sind.
Aufgrund dieser Streuungsprozesse, die sich in extrem kleinen Skalen von Nanometern und innerhalb kürzester Zeitspannen – Femtosekunden – abspielen, kommt es zu Energieverlusten in Form von Wärme. Außerdem wird dadurch die Übertragungsgeschwindigkeit von Informationen in elektronischen Geräten limitiert. Dies führt zu einer natürlichen Grenze dessen, wie schnell und effizient unsere elektronischen Geräte operieren können.
Die Suche nach besseren Materialien, die diesem Tempolimit nicht unterworfen sind, ist im Gange. Eines dieser Materialien könnte der bereits erwähnte Halbleiter sein, der den eingängigen Namen Re6Se8Cl2 trägt. Entwickelt hat ihn ein Team von Chemikerinnen und Chemikern der Columbia University unter der Leitung von Jack Tulyag, einem Doktoranden, der mit dem Chemieprofessor Milan Delor zusammenarbeitet.
Entwicklung entsprang einem Zufall
Wenn wir davon schreiben, dass das Forschungsteam der Columbia den Halbleiter entwickelt haben, entspricht das nur der halben Wahrheit, denn am Anfang stand ein Zufall. Bei der Erprobung eines neuen Mikroskops untersuchten sie ein superatomisches Material, welches sie kürzlich im Labor synthetisiert hatten. Im Fokus ihrer Untersuchung stand das Molekül Re6Se8Cl2, das durch sechs Rheniumatome geprägt ist, die in Form eines Oktaeders angeordnet sind. Diese sind umgeben von einem Würfel, der aus acht Selenatomen besteht und das oktaedrische Rheniumgerüst umschließt.
Als sie das Molekül mit Licht anregten und die Ladungsbewegungen analysierten, machten Jack Tulyagankhodjae von der Columbia University und sein Team eine überraschende Entdeckung: „Es passierte das Gegenteil von dem, was wir erwartet hatten“, berichtet Seniorautor Milan Delor von der Columbia University. „Statt der erwarteten langsamen Bewegung sahen wir das Schnellste, was wir je gesehen hatten.“
Das superatomische Material entpuppte sich als Halbleiter, der Elektronen sehr viel schneller als alle bisherigen Halbleitermaterialien transportierte: „In Bezug auf den Ladungstransport ist Re6Se8Cl2 der schnellste Halbleiter, den wir bisher kennen“, sagt Delor. Das Team berichtet, dass sich die Elektronen im Material doppelt so schnell wie in Silizium und 23-mal so schnell wie in Wolframselenid bewegen.
Schneller war noch kein anderer Halbleiter
Die Forschungsgruppe um Jack Tulyagankhodjae hat somit durch Zufall den ersten Halbleiter entdeckt, der bei Raumtemperatur einen quasi-ballistischen Ladungstransport ermöglicht. Dies bedeutet, dass Elektronen und Löcher mit minimaler Streuung, die normalerweise durch Gitterschwingungen hervorgerufen wird, durch das Material fließen können. Dadurch können sie Geschwindigkeitsgrenzen überschreiten, die bisher als unüberwindbar galten.
Die Autoren der Studie geben hierfür zwei Gründe für den neuen Geschwindigkeitsrekord bei Halbleitern an: Erstens sorgen die Superatome innerhalb des Kristallgitters des Halbleiters für eine Versteifung, die die Gitterschwingungen, die üblicherweise bei Energiezufuhr auftreten, signifikant reduziert. Zweitens führt die Interaktion zwischen Elektronen und den vom Gitter ausgehenden Phonon-Quasiteilchen zur Bildung von Polaronen – das sind neue Quasiteilchen, die zwar schwerer und langsamer als Elektronen erscheinen, aber eine entscheidende Rolle beim Ladungstransport spielen.
Vom Hasen und dem Igel
Die Autoren erklären die Wirkungsweise des neuen Halbleiters mit der Geschichte vom Hasen und dem Igel. In der Urquelle ist von Schildkröte und Igel die Rede, wir übertragen sie jedoch auf die uns bekannte Fabel. So oder so gilt: Obwohl Polaronen massereicher sind und eine geringere Geschwindigkeit aufweisen als einzelne Elektronen, führt ihre Trägheit paradoxerweise zu einem schnelleren Ladungstransport.
Das Team erklärt, dass die Ladungsträger gerade deshalb, weil sie schwerer zu streuen und abzulenken sind als leichtere Elektronen, einen deutlich effizienteren Transportweg bieten. Diese Entdeckung könnte weitreichende Auswirkungen auf die Effizienz von Halbleitern und die Geschwindigkeit elektronischer Geräte haben.
Schnellere und effizientere Elektronik möglich
Wenn die Elektronen ohne Tempolimit durch den Halbleiter rauschen, hat das gravierende Auswirkungen auf elektronische Bauteile, könnten diese doch künftig sehr viel schneller und effizienter werden. „Diesen wellenartigen, weitreichenden elektronischen Energiefluss in 2D-Materialien zu generalisieren, könnte eine Ära von nahezu verlustfreier Nanoelektronik einleiten“, erklären die Forschenden.
Eine Einschränkung geben sie jedoch mit auf den Weg: Da das Element Rhenium extrem teuer ist, wird es wohl niemals eine Massenproduktion mit diesem turboschnellen Halbleiter geben. Es besteht jedoch die Hoffnung, dass ein solcher Ladungstransport mittels Polaronen auch mit anderen neuartigen Quantenmaterialien möglich ist.
„Dies ist zwar bisher das einzige Material, in dem ein anhaltender ballistischer Ladungstransport bei Raumtemperatur beobachtet wurde. Aber wir können nun vorhersagen, welche anderen Materialien dieses Verhalten noch zeigen könnten“, sagt Delor. „Es gibt dort draußen eine ganze Familie von superatomischen und anderen 2D-Halbleitermaterialien, deren Eigenschaften für die Polaron-Bildung günstig sind.“ Das Forschungsteam möchte sich nun auf die Suche nach solchen Materialien machen.
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