Austauschen vor dem Kurzschluss
Erdkabel in 10- bis 20-Kilovolt(kV)-Elektro- netzen werden meist dann getauscht, wenn ein „Fehler“ auftritt. Der wird im allgemeinen Sprachgebrauch Kurzschluss genannt. In einem Testfeld in Nürnberg versuchen Wissenschaftler und Energiewirtschaftler einen Parameter zu definieren, mit dem der Austausch geplant werden kann, bevor es zum Fehlerfall kommt.
Das Masse-Mittelspannungskabel mit Ölpapierisolierung wird kaum mehr im Stromnetz-Neubau eingesetzt: Seit etwa 1980 werden großteils VPE-Kabel mit vernetztem Polyethylenmantel verwendet. Dennoch sind diese Massekabel immer noch weit verbreitet. Das rund 300 000 km lange, deutsche Mittelspannungsnetz – der Wert wird auf gut 23 Mrd. € geschätzt – besteht etwa zur Hälfte aus diesem Kabeltyp, der bereits 1890 entwickelt wurde.
Die theoretische Lebensdauer eines Massekabels wird mit 40 Jahren angesetzt. Doch die Verteilnetzbetreiber holen es meist erst dann aus dem Boden, wenn es geknallt hat. Dann ist nämlich der Wert des Verlustfaktors Tangens Delta (tan d) zu groß, und die Spannung durchschlägt per Lichtfunken die Isolation.
Am häufigsten geschieht das bei Kabeln, die zwischen 60 und 70 Jahre alt sind. Jedoch passiert der Durchschlag auch schon mal bei 20- wie auch bei 100-jährigen Kabeln. Genau ist das nie vorauszusagen. Bisher.
Noch ist die Messung des tan d die am weitesten verbreitete Art, die Qualität der Isolation zu bestimmen. So wird die voraussichtliche weitere Lebensdauer abgeschätzt. Ein Verfahren, das mit großen Fehlern behaftet ist, wie Gerhard Schwarz von der Netzgesellschaft des Nürnberger Energieversorgers N-ergie AG, weiß. Ein zweiter Fehlertest bestimmt das Teilentladeverhalten der Kabel: Das Ersatzschaltbild ist das eines Kondensators. Doch erlauben beide Verfahren keine genauen Bewertungen.
Das soll nun anders werden. Seit Kurzem gibt es das – nach Aussage der Erbauer – weltweit erste Versuchsfeld, in dem ein Parameter zur genauen Qualitätsbestimmung dieses Kabeltyps gefunden werden soll. „Auf fünf bis zehn Jahre genau“, wie der Ingenieur Christian Weindl hofft. Für die wesentlich später entwickelten VPE-Kabel kennt er „weltweit etwa acht Testanlagen“.
Drei Jahre Vorbereitung hat es gebraucht, bis das Versuchsfeld in einer ehemaligen Lkw-Garage der N-ergie aufgebaut werden konnte, berichtet Weindl, der als Wissenschaftler am Erlanger Universitätslehrstuhl für elektrische Energieversorgung arbeitet. Zwei Jahre Mess- und Auswertezeit ab jetzt haben sich Weindl und die Doktorandin Ivana Mladenovic für das Finden dieses Qualitätsparameters gegeben.
Der Parameter sei dringend nötig, meint der Ingenieur Gerhard Schwarz, Leiter der Netzkonzessionen der N-ergie. Denn der Netzbetrieb wird immer mehr beäugt von der Bundesnetzagentur. Sie legt die Durchleitungsgebühren für die einzelnen Stromnetzbetreiber fest, also auch für die N-ergie. Mit einer klaren, auf nachvollziehbaren Alterungswerten beruhenden Austauschstrategie für die Mittelspannungskabel hofft Schwarz, die Agentur leichter von der Seriosität der Netzkostenberechnung überzeugen zu können.
Über 700 000 € hat der Nürnberger Versorger in das Projekt gesteckt Fördermittel von Bund oder Land gab es dafür keine. Nur der bayerische Kabelhersteller Bayka und der US-Diagnosespezialist Imcorp sind bei der Kabelforschung mit an Bord.
Die interessanten Teile für das Nürnberger Prüffeld haben die Erlanger Uni-Mitarbeiter selbst entwickelt. Zum Beispiel jene zwei Trafos, mit denen die Alterung beschleunigt wird: Einer legt eine 50-Hz-Wechselspannung von bis zu 50 kV zwischen Leiter und Mantel an ein zweiter Trafo mit Gleichrichter liefert maximal 600 A bei 36 V Gleichspannung zum Erwärmen der Leiter auf weit über 100 °C. „Ein Jahr hier sind 50 Jahre in der Erde“, beschreibt Weindl die erhöhten Belastungen der Kabel im Prüffeld. Mehrere Dutzend Kabel, je 13 m lang, sind zwischen den beiden Böcken mit den Öl liefernden Endverschlüssen eingelegt.
Von fabrikneuen bis zu alten Testobjekten aus dem Jahr 1951 finden sich hier. „Zweimal am Tag erfassen wir hochgenau insgesamt je 840 Parameter. Aber nicht nur den tan d oder die Kapazität für das Teilentladungsverhalten bei verschiedenen Spannungen“, erklärt Weindl den Versuch. Alles laufe automatisch und ferngesteuert vom Erlanger Unibüro aus.
Am Ende der zwei Versuchsjahre werden 200 GByte an Daten gesammelt sein. Mladenovic ist sich sicher: Daraus werde sie jenen Qualitätsparameter bestimmen können, der „eine Empfehlung einer guten Strategie zum Kabeltausch“ möglich macht. An dem haben inzwischen viele andere Netzbetreiber ihr Interesse angemeldet, freut sich N-ergie-Mann Gerhard Schwarz.
HEINZ WRANESCHITZ
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