Bei Atomunfall in Tihange würde Aachen unbewohnbar
Eine ganze Region läuft Sturm gegen das belgische Atomkraftwerk Tihange mit seinen Tausenden von Rissen. Eine neue Studie aus Wien dürfte den Protest nun noch anfeuern: Aachen würde bei einem Reaktorunglück unbewohnbar. Köln, Düsseldorf und das Ruhrgebiet würden verstrahlt.
So viel Einigkeit gibt es fast nie: Städte und Gemeinden, Politiker quer durch die Parteien, Wirtschaft, Behörden und Experten betrachten das belgische Atomkraftwerk Tihange als echte Gefahr. Mit Rheinland-Pfalz hat sich zuletzt sogar ein ganzes Bundesland der Klage gegen das Kraftwerk angeschlossen. Anders sehen das nur die Belgier selbst. Deren Atomaufsicht hält den beschädigten Reaktorblock 2 in Tihange wie auch den ebenfalls kritisch beäugten Block 3 im AKW Doel für sicher.
Die Schäden in Doel, das bei Antwerpen an der Nordseeküste und damit denkbar weit entfernt von Deutschland liegt, regen hier zu Lande nicht so sehr auf. Tihange in der Nähe von Lüttich ist aber nur 70 km von der Grenzstadt Aachen mit ihren knapp 250.000 Einwohnern entfernt. 2014 wurde Tihange abgeschaltet, nachdem tausende Risse im Reaktordruckbehälter festgestellt wurden.
Inzwischen ist Tihange 2 längst wieder am Netz. Aber wenn die Hülle dieses Behälters birst, dann könnte dies einen Unfall in der Größenordnung von Fukushima bedeuten.
Feuer oder Explosionen könnten Folgen verschärfen
Was das für die Menschen in Aachen heißen könnte, haben nun Experten des Instituts für Sicherheits- und Risikowissenschaften in Wien im Auftrag der Städteregion Aachen untersucht. Sie nahmen sich vor allem tausende Wetterdaten vor, um zu ermitteln, welche Ausbreitung von Strahlung in welche Richtung am wahrscheinlichsten ist.
Ihr Fazit: Wenn es zu dem angenommenen Unfall komme, bestehe ein Risiko von zehn Prozent, dass Aachen völlig unbewohnbar werde. Die radioaktive Belastung der Stadt sei dann vergleichbar mit der in der 20-Kilometer-Sperrzone um Fukushima, so der Kernkraftexperte Prof. Wolfgang Renneberg, Diplom-Physiker am Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften in Wien.
Dies allerdings, so räumen die Experten ein, sei nur bei einer extrem ungünstigen Wetterlage zu erwarten. Als wahrscheinlicher gilt demnach, dass die Strahlung das 25-Fache der ohnehin bestehenden durchschnittlichen Belastung jedes Menschen pro Jahr erreiche – das aber ist auch schon ein Wert, ab dem eine Region evakuiert werden müsse.
Außerdem ist der Untersuchung zufolge durchaus damit zu rechnen, dass weite Teile Nordrhein-Westfalens verstrahlt werden, beispielsweise auch das Ruhrgebiet mit seinen fünf Millionen Einwohnern oder Städte am Rhein wie Köln und Düsseldorf, die Luftlinie nur 130 km von Tihange entfernt sind. Zumal eines gilt: Wenn – wie in Fukushima – verstärkende Umstände wie Feuer oder Explosionen hinzukommen, kann das die Verbreitung der Radioaktivität noch massiv erhöhen.
Weite Teile Nordrhein-Westfalens könnten verstrahlt werden
„Bis auf die Hälfte seiner Dicke ist ein Reaktordruckbehälter mit Rissen durchzogen. Das ist ein Sicherheitsrisiko, das man nicht dulden kann“, sagte Prof. Renneberg bei der Vorstellung der Studie in Aachen. Für den Chef der Aachener Städteregion, Helmut Etschenberg, ist die Konsequenz aus der Studie klar: Weil nun der seriöse Nachweis vorliege, dass die Region sehr wahrscheinlich von einem Unfall in Tihange betroffen sein werde, sei der weitere Betrieb der Reaktoren dort nicht hinnehmbar.
Der CDU-Politiker kündigte deshalb eine zweite Klage gegen den Betrieb der Anlage vor einem belgischen Zivilgericht an, nachdem bereits im Februar vor dem höchsten Verwaltungsgericht des Landes geklagt worden war. Wie konkret für die Verantwortlichen in der Region die Gefahr durch Tihange ist, zeigt im Übrigen die aktuelle Aktion: Demnächst werden an alle Bürger Jodtabletten ausgeteilt. Die Kosten der Verteilung übernimmt das Land NRW.
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