Das Schlimmste wurde nicht gedacht
Der ernste Störfall in den japanischen Siedewasserreaktoren von Fuku-shima Daiichi hat die Sicherheitsdiskussion um Kernkraft weltweit neu angefacht. Das dreimonatige Aussetzen der Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke ist dafür deutlicher Beleg.
Die Internationale Atomenergieagentur IAEA in Wien hat viele Belobigungen und Preise eingeheimst, darunter den Friedensnobelpreis des Jahres 2005. Doch im März 2011 besitzt die Organisation, die vertraglich mit den Vereinten Nationen verbunden ist, scheinbar nicht einmal eine aktuelle Skizze der Atomreaktorblöcke 1 bis 6 des japanischen Atomstandorts Fukushima 1.
Trotz ihrer Aufforderung an die japanische Regierung und Betreiberfirma „Tokyo Denryoku“ (Tokyo Electric Power Company – Tepco), Fakten zu nennen, kann die IAEA auf Anfrage lediglich einen Auszug aus dem Reaktorkonzept-Handbuch des Testtrainingszentrums der Kernkraft-Regulierungsbehörde in den USA (USNRC) liefern.
Dies beruht auf Informationen des Reaktorherstellers GE, der in den 1970ern die Blöcke 1, 2 und 6 des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi bestückte. Block 3 enthält Technologie von Toshiba. Weiß die IAEA also überhaupt, wie die Sicherheitssysteme dort wirklich aussehen?
Besser informiert wirkt das Krisenzentrum der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) in Köln. Stand 16. 3.: Die GRS meldete zum bereits vor dem Erdbeben abgeschalteten Daiichi-Block 4 „vermutlich Schäden am Reaktorgebäude (2 m x 8 m große Löcher). Der Brand wurde kurzfristig gelöscht.“
Das Abklingbecken von Block 4 gilt als eine wichtige Quelle für die erhöhte Strahlenbelastung in Fukushima. Es liegt oberhalb des inneren Beton-Containments und wurde durch eine vorherige Knallgasexplosion freigelegt. „Das Becken konnte aber bislang wohl noch nicht wieder aufgefüllt werden“, heißt es bei der GRS. „Versuche mit Hubschrauber bzw. Feuerlöschspritzen erfolgen. Dach der Reaktorhalle beschädigt, mindestens zwei Feuer im Brennelemente(BE)-Lagerbecken, Kernschäden im Lagerbecken.“
Wenn Brennelemente nicht mehr im Druckbehälter sind, können sie nicht sich selbst überlassen werden: Sie heizen sich auf. Durch die beiden Brände wurden erhebliche Mengen radioaktiven Materials in die Luft gewirbelt. Die kontaminierte Wolke trieb zumindest am Dienstag an der Megastadt Tokio vorbei. Daher der Versuch, durch Hubschrauber das Becken erneut mit Wasser zu füllen, welches aber immer schnell wieder verdampft.
Hans-Josef Allelein, Lehrstuhlinhaber für Reaktorsicherheit und -technik an der Fakultät für Maschinenwesen der RWTH Aachen, sieht „das nicht zu wässernde Brennelementelager von Block 4 wohl als das größte Problem. Was dort an radioaktivem Material rauskommt, kommt relativ direkt in die Umgebung, eine recht kritische Freisetzung.“
Aufgrund der hohen Strahlung wurde die Anlage am Mittwoch um 10.45 Uhr Ortszeit komplett geräumt. Die Ortsdosisleistung am Tor lag im Bereich von 2,5 mSv/h bis 6,5 mSv/h. Mittlerweile ist ein Teil der Mannschaft wegen gesunkener Strahlenpegel wieder aufs Anlagengelände zurückgekehrt.
Sollte es zu Kernschmelzen gekommen sein, könnten diese wieder gestoppt werden, versichert Heinz-Christian Sonnenburg von der GRS. Auch hier sei laufende Kühlung nötig. Wenn der Wasserstand im Reaktorkern sinke und die Brennstäbe teilweise freilägen, komme es zum „Candelling, also dem Abschmelzen der Brennstabspitzen. Die fallen dann als Debris in den unteren Teil des Reaktorkerns. Sofern Kühlwasser wieder zugeführt wird, bestehen gute Aussichten dieses Debris, wie in Three Mile Island, USA (Harrisburg, Kernschmelze am 28. 3. 1979), beobachtet, wieder zu kühlen.“
Allen japanischen Reaktorfehlern voraus ging das Problem: Aufgrund des Erdbebens und der Tsunami
welle waren die Notfalldiesel nicht zu starten. Lediglich Batterien konnten die Notkühlpumpen noch 8 h lang antreiben, danach ging nichts mehr mit der Reaktorkühlung. Bei deutschen Reaktoren wäre schon nach 2 h Batteriebetrieb Schluss gewesen.
Im Jahr 1999 veröffentlichten deutsche Sicherheitsforscher den GRS-Bericht A-2679 „Erkenntnisse aus dem UPTF-TRAM-Versuchsvorhaben“. Darin sahen sie den Ausfall sämtlicher Kühl- und Speisepumpen zumindest bei Druckwasserreaktoren als „weit ab von jeder Realität“ an. Die Auslegung hatte diesen möglichen Störfallzustand zunächst nicht vorgesehen: „Im TRAM-Programm (Transient Accident Management) wurden auslegungsüberschreitende Störfälle simuliert“, bestätigt Sonnenburg von der GRS.
Siedewasserreaktoren – die jetzt in Japan betroffenen sind solche – seien dagegen „zugegeben etwas stiefmütterlich behandelt worden“, gibt Sonnenburg zu. Der Hauptgrund sei der gegenüber Druckwasserreaktoren (160 bar) recht niedrige Druck von 70 bar im Reaktordruckbehälter. Weshalb „Siedewasserreaktor-Störfallanalysen hinsichtlich der Aufrechterhaltung der Kernkühlung immer relativ unkritisch waren“, so Sonnenberg. „Dennoch haben wir Siedewasserreaktoren weiterhin im Visier.“
So wurde zuletzt 2007 die GRS-Sicherheitsstudie A-3291 für Siedewasserreaktoren der „Baulinie 69“ veröffentlicht. Darunter fällt neben deutschen Reaktoren Isar 1, Brunsbüttel, Philippsburg 1 und Krümmel auch das nie in Betrieb genommene österreichische Kernkraftwerk Zwentendorf.
Genau an diesem nicht radioaktiven Kernkraftwerk hat ein deutsch-österreichisches Team um Wolfgang Kromp von der Universität für Bodenkultur Wien im Auftrag mehrerer österreichischer Bundesländer im vergangenen Jahr einen „Schwachstellenbericht Siedewasserreaktoren Baulinie 69“ erarbeitet. Dessen Ergebnis: „Mit zunehmendem Alter werden ursprünglich nachgewiesene Sicherheitsabstände kontinuierlich abgebaut möglicherweise unentdeckt gebliebene Alterungserscheinungen erhöhen die Gefahr schwerer Unfälle.“
Weil man in Zwentendorf „an Schweißnähten unzulässig hohe Materialspannungen festgestellt“ habe, die man aber in laufenden Kernkraftwerken „nicht genau messen kann, schlagen wir vor: abschalten, ja freilich!“, so Kromp gegenüber den VDI nachrichten.
Zumindest für die nächsten drei Moratoriumsmonate hat die deutsche Bundesregierung diese Forderung bereits erfüllt.
HEINZ WRANESCHITZ
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