Tschernobyl 15.04.2011, 19:52 Uhr

Die Menschen von Tschernobyl: „Wir haben Angst, vergessen zu werden“

Die umgesiedelten Menschen aus der Region Tschernobyl spielen 25 Jahre nach der Reaktorkatastrophe in der ukrainischen Politik keine Rolle mehr. Sie fühlen sich abgeschoben, erhalten kein Geld für Medikamente und leben oft von einer armseligen Rente. Ukrainische Politiker schauen lieber nach vorne: Sie entdecken erneuerbare Energiequellen, um von Gaseinfuhren aus Russland unabhängiger zu werden.

„Es gibt so wenige Männer hier im Dorf“, erzählt Wladimir Kopatschowez. Er lebt seit fast 25 Jahren hier in Sdwizhewka rund 60 km südlich von Tschernobyl. Wie viele andere wurde er damals aus Salesja – einem Dorf 3 km vom Unglücksreaktor entfernt – hierher gebracht. Der heute 68-Jährige schaut nicht gerne zurück. „Wir mussten alles zurücklassen: die Kühe, den Haushalt, alles.“

Was bleibt? Warm eingepackt Domino spielen auf einem alten Küchentisch auf dem Bürgersteig. Jeder hier erhält eine Rente zwischen 700 Griwna bis 1300 Griwna. Das sind 60 € bis 115 €. Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig.

An seinen Nachbarn Nikolai Dolgolap kann sich Wladimir kaum erinnern. „Zu viele sind gestorben.“ Nikolai musste nach dem Super-GAU verstrahlte Lebensmittel vergraben. Schutzkleidung? Keine! Er starb zwei Jahre später als 49-Jähriger an Lungenkrebs. Kopatschowez hatte Glück. Er lebt, auch wenn er an den ersten Maitagen mit einem Lkw Sand zum zerstörten Meiler fahren musste.

Nikolais Frau Olga trauert noch heute. „Wir hatten ein Haus, ein Auto, zwei Kinder und sammelten im Herbst Pilze.“ Dann ging alles sehr schnell am 26. April 1986. Dass im Reaktor etwas Schlimmes geschehen war, hatte sich zwar schnell herumgesprochen. Offiziell? Schweigen! Am 3. Mai hieß es, das Dorf werde evakuiert, am 4. Mai war es so weit. „Wir wurden mit Bussen weggefahren und untergebracht bei fremden Familien 15 km entfernt.“ Sie seien gut behandelt worden, so Olga Dolgolap.

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Dann wurde für die Menschen aus Salesja im Sommer 1986 Sdwizhewka aus dem Boden gestampft. Sie erhielten Häuser mit Sitztoiletten auf dem Hof. Heute leben dort knapp 500 Menschen – auch Olga mit Sohn, Tochter und Enkelin. Olga weint, wenn sie jetzt von Fukushima hört. Sie würde gerne helfen. Doch die Witwenrente von 1200 Griwna (105 €) reicht hinten und vorne nicht. Um zu überleben, baut sie Kartoffeln und Gemüse an. Was Schönes im Leben? Nein! „Doch ja, jetzt ist Frühling.“ Die Sonne wärmt und Knospen bringen Farbe ins Leben.

Zur Kernenergie hat sie eine fatalistische Haltung „Ich habe keine Ahnung, weiß nichts.“ Sie wünscht sich bessere Zeiten, Gesundheit und dass ihr Sohn weniger trinkt.

Wladimir macht sich ernsthafter Gedanken: „Es wäre schön, ohne Kernenergie auszukommen, für unsere Kinder und Enkel brauchen wir sie nicht mehr.“ Da gibt es auch anderes … erneuerbare Energien etwa!

Strom und Wärme aus Biomasse, Sonne oder Wind spielen aber hier noch eine untergeordnete Rolle. Wichtiger ist den Ukrainern, sich von russischen Erdgaseinfuhren zu befreien. Das Land strebt nach mehr Energieautarkie. So setzte die ehemalige Regierung unter Wiktor Juschtschenko 2006 in der „Energiestrategie 2030“ auf mehr Kohle und 22 neue Kernenergiereaktoren.

„Regierungen setzen ihre Pläne aber selten um“, freut sich Arthur Denisenko vom National Ecological Centre of Ukraine (Necu) in diesem Fall. „Bislang wurden erst die Laufzeiten zweier Reaktorblöcke im Bezirk Rivne verlängert.“ Im Gespräch ist auch, zwei Blöcke im Bezirk Khmelnitsky zu Ende zu bauen. Vor allem Letzteres sei völlig falsch, so Denisenko. Die Grundmauern stammten aus den 80er-Jahre, nach dem Super-GAU von Tschernobyl wurde der Bau gestoppt. Jetzt soll mit mehr als 3 Mrd. € aus Russland auf alten Fundamenten zu Ende gebaut werden.

Der 26-jährige Umweltwissenschaftler sitzt mit zehn weiteren Umweltschützern im fünften Stock einer zum Büro umgebauten kleinen Wohnung. Vor einem Fenster haben sie ein Plakat in leuchtend gelber Farbe gehängt: „Nein zur Renaissance der Kernenergie“ steht in schwarzer Schrift drauf.

Das Plakat müsste in einem rosa angestrichenen Altbau 200 m entfernt noch zu lesen sein, glaubt Denisenko. Dort sitzt Energoatom, das Staatsunternehmen, dass die 15 ukrainischen Kernkraftwerke betreut.

Die Umweltschützer von Necu verstehen sich als Denkfabrik für eine neue Energiepolitik. „Vordringlich ist, die Energieeffizienz zu verbessern“, meint Denisenko. Energie sparen? Wärmedämmung? Fremdwörter. Das ist ein Überbleibsel aus alter Zeit, wo Menschen Strom, Wärme und Wasser quasi umsonst nutzen durften.

Die Regierung hat inzwischen gelernt, dass auch Energieeffizienz und erneuerbare Energiequellen unabhängiger von Energieeinfuhren machen. Dass seit Ende 2010 das erste Solarkraftwerk in der Ukraine Strom liefert, erfüllt Regierungsvize Andrej Kljujew mit Stolz. Die Regierung hält auch viele kleine Wasserkraftwerke in Gebirgsflüssen der Karpaten für sinnvoll.

Der 52-jährige Ingenieur Andrij Konechenkov treibt den Ausbau der Windenergie voran. Vor 25 Jahren weckte das Unglück von Tschernobyl in ihm Zweifel in die Vertrauenswürdigkeit der Kernenergie. „Wir können aber keine Technologie einfach aufgeben“, so der heutige Vorsitzende des Ukrainischen Windenergieverbands (UEWA). „Wir müssen erst neue verlässliche und umweltfreundliche Alternativen anbieten.“

Das Potenzial sei riesig, erklärt Konechenkov. Nationale und internationale Projektentwickler hätten Windparks mit einer Kapazität von 15 GW angekündigt. Diese könnten jährlich 40 TWh Strom produzieren. Das entspreche einem Viertel des aktuellen Energieverbrauchs.

Stolz zeigt der Windenergiepionier auf einer Landkarte auf die Krim. Im Sommer oder Herbst soll im Osten der Halbinsel der Kazantipsakaya-Windpark mit 40 bis 50 modernen Windrädern mit einer Gesamtleistung von rund 100 MW errichtet werden. Es wäre der bislang größte Windpark im Land. Der Projektentwickler ist die ukrainische Konkord Group aus Kiew, Konechenkov ist daran beteiligt.

„Wir halten nicht nur ukrainische Gesetze, sondern auch EU-Gesetze ein.“ Das betont Konechenkov, da dies die Seriosität und damit die Kreditwürdigkeit bei Investoren wie der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (ERBD) erhöht. Die Konkord Group hat eine Umweltverträglichkeitsprüfung erstellen lassen und das hannoverische Gutachterbüro Geo-Net Umweltconsulting hat von Dezember 2008 bis Dezember 2009 am geplanten Standort die Windverhältnisse gemessen und ein akkreditiertes Gutachten erstellt.

Über Details spricht Konechenkov nicht gerne. Klar ist: Der Standort wäre ideal: Auf der Krim herrschten Windgeschwindigkeiten wie an der deutschen Nordseeküste. Nach etwa neun Jahren würde sich die Investition in den Kazantipsakaya-Windpark lohnen. Konechenkow ist optimistisch: Sie planen bereits zwei weitere Windparks auf der Krim – einen mit 180 MW und einen mit 100 MW.

Das größte technische Hindernis für den Ausbau der Windenergie ist im Prinzip das gleiche wie in den meisten anderen Ländern auch. Das Stromnetz müsse sich an die neuen Energiequellen anpassen, erklärt Konechenkov.

Und Korruption? Schmiergeld fließe überall auf der Welt. „Ich glaube, Korruption wird in der Ukraine immer unwichtiger.“ Noch gehört Bakschisch hier zum Alltag. Im aktuellen Korruptionsranking der Transparancy International liegt die Ukraine auf den hinteren Rängen, knapp vor der Elfenbeinküste und dem Jemen.

Korruption kennen auch Olga und Wladimir. In Sdwizhewka könne kaum jemand zum Arzt gehen, so Wladimir. „Da müsse man heute Geld mitbringen.“ Die Menschen dort helfen sich stattdessen selber – etwa mit Birkensaft gegen Nierenleiden und Blaubeersaft für gute Augen.

Die Debatte um die künftige Energieversorgung erreicht die Menschen hier nicht. Sie fürchten viel mehr, dass man sich auf Dauer nicht mehr an die Reaktorkatastrophe und deren Opfer erinnert.

Die Regierung Janukovitsch will – so die Gerüchte – das Gesetz von 1991 kippen, das Tschernobyl-Leuten Erleichterungen verschafft: Sie brauchen nur die Hälfte der Miete und der Nebenkosten zahlen. Die Regierung werde, so glauben sie, damit bis nach dem 25. Jahrestag von Tschernobyl warten. Doch das Leben wird jetzt schon immer teurer: Preise für Strom und Brot steigen ständig.

Von schlechter Stimmung ist Anfang April in einem Kindergarten im Kiewer Bezirk Desnjanski zwischen zehnstöckigen Plattenbauten nichts zu spüren. 40 Kinder strahlen um die Wette. Sie klatschen, singen, spielen und tanzen gemeinsam mit zwei Animateuren. Es sind Kinder von Tschernobyl-Umsiedlern aus Prypjat – einer heutigen Geisterstadt nah am Unglücksreaktor. Früher lebten dort knapp 50 000 Menschen.

Noch ahnen die Kleinen nicht, dass auch ihnen Ungemach droht. Sie werden von der Organisation „Landsleute“ betreut, die Tamara Krasitskaya nach der Evakuierung gründete, um die Menschen aus Prypjat zusammenzuhalten. Heute betreut die Organisation rund 2000 Menschen – darunter viele Invalide sowie Waisen- und Halbwaisenkinder

„Wir erhalten weder von der Stadt noch vom Land Hilfe“, sagt Tamara, eine energische 56-Jährige. Die Organisation lebt von Spenden vor allem aus Deutschland und Japan. Tamara erwartet, dass sich die Japaner nach Fukushima erst um sich selbst kümmern – das bedroht aber die Hälfte der Spendeneinnahmen.

Das Honorar für den Animateur hat Gerhard Klöpper aus Hamburg bezahlt. Für die Kinder war es ein Riesenspaß. Doch ein Unglück kommt selten allein: Die Organisation muss im Mai das Gebäude verlassen. Der Kindergarten soll künftig in staatliche Hände übergehen und von anderen Kindern genutzt werden.

Der Organisation „Landsleute“ wurden im Bezirk neue Räume zugewiesen, doch Tamara ist entsetzt. „Es gibt keine Heizung, keine Toilette, Türen und Fenster sind kaputt.“ Die Renovierungskosten schätzt Klöpper auf 50 000 € und mehr.

Dabei ist Geld vorhanden. Viele Ukrainer verweisen auf den Stahl- und Kohlenbaron Rinat Akhmetov, dem wohl reichsten Ukrainer: Er steht auf Rang 39 der Forbesliste der reichsten Männer – mit einem vermuteten Vermögen von 16 Mrd. $. Während er die Erfolge seines Fußballclubs Shakhtar Donetsk feiert, fürchten sich viele Tschernobyl-Menschen: „Wir haben Angst, vergessen zu werden“, sagt die 66-jährige Galina Dondukowa von der Organisation „Landsleute“. „Die Politiker hören zu, versprechen vieles und vergessen dann alles.“

Und plötzlich wirkt sie kämpferisch: „Wenn die Regierung das Gesetz mit den Vergünstigungen streicht, werden wir protestieren und Briefe schreiben.“ Doch im nächsten Moment zeichnet wieder Traurigkeit ihre Gesichtszüge: „Was können wir alte Menschen denn schon machen?“ RALPH AHRENS

Ein Beitrag von:

  • Ralph H. Ahrens

    Chefredakteur des UmweltMagazins der VDI Fachmediengruppe. Der promovierte Chemiker arbeitete u.a. beim Freiburger Regionalradio. Er absolvierte eine Weiterbildung zum „Fachjournalisten für Umweltfragen“ und arbeitete bis 2019 freiberuflich für dieverse Printmedien, u.a. VDI nachrichten. Seine Themenschwerpunkte sind Chemikalien-, Industrie- und Klimapolitik auf deutscher, EU- und internationaler Ebene.

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