Ostsee-Pipeline 18.06.2010, 19:47 Uhr

„Dieses Projekt ist schon etwas ganz Besonderes“

Nach etlichen Irrwegen durch die internationale Politik sowie einem Planungsmarathon startet jetzt der Bau der Ostsee-Pipeline. Die längste Unterwasser-Gasröhre der Welt soll Europa an die russischen Erdgasvorräte in Westsibirien anschließen und so die Versorgungssicherheit der EU garantieren. Doch ihre Verlegung ist ein kleines Abenteuer, verlangt viel Vorbereitung und Können.

Eingepackt in einen dicken Schutzanzug, der Kopf verschwunden in einem breiten Helm, hockt der Mann vor der knapp mannshohen Stahlröhre. Vorsichtig lenkt er einen Schweißroboter über die Schweißnaht, ein paar Schweißer in Schutzanzügen schauen ihm aus sicherer Entfernung zu. Ansonsten herrscht Ruhe im riesigen Bauch des schwimmenden Spezialschiffs „Castoro 10“. Denn noch üben die Männer nur.

Line of Fire, „Feuerlinie“ nennen die Schweißer diesen mit einem Förderband ausgelegten Bauch des schwimmenden Giganten. Wo jetzt nur einzelne Stahlrohre liegen, wird der Schweißroboter in einigen Tagen anspringen und dann gut ein Jahr nicht mehr stillstehen. „Wenn wir die Ostsee-Pipeline verlegen, wird es hier unten einfach nur noch laut und heiß“, sagt Kapitän Enzo Lezza, Chef des Schiffs, mit dem die italienische Spezialfirma Saipem weltweit Gas- und Ölleitungen verlegt. Noch aber liegt das Schiff mit seinem 110 m langen und 35 m breiten Deck an diesen Junitag im Hafen von Rotterdam, ein Portalkran ragt hinter ihm in den Himmel.

Immer wieder kontrolliert der Schweißer die Naht, justiert den Schweißroboter neu. Bis das Schiff ausläuft, muss jeder Handgriff sitzen. Dann werden hier unten in der „line of fire“ einige Dutzend Männer im Stundentakt Stahlrohre zu einer schier endlosen Pipeline verschweißen. Kontinuierlich wird diese über das Heck in die Tiefen der Ostsee gleiten und ab 2011 russisches Gas nach Deutschland leiten.

Zwei Rohrleitungen werden parallel verlegt, ein Jahr lang die erste, dann noch einmal ein Jahr die zweite. Sie ziehen sich vom russischen Wyborg bei St. Petersburg quer durch die Ostsee am schwedischen Gotland vorbei nach Lubmin am Greifswalder Bodden – 1223 km.

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Versorgungssicherheit war die Begründung für das 7,4 Mrd. € teure Projekt. Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hatte das Vorhaben seit Ende der 1990er-Jahre vorangetrieben, um Westeuropa an die russischen Erdgasvorräte in Westsibirien anzuschließen.

Mittlerweile beginnen an der russischen Küste und der schwedischen Insel Gotland die Arbeiten an der Ostseepipeline. 100 000 Rohre müssen für jede der beiden Pipelines verschweißt werden. Bauherr ist der Pipeline-Betreiber Nord Stream, ein Konsortium aus Gazprom (51%), BASF/Wintershall und E.on Ruhrgas (je 20 %) sowie Gasunie.

Verlegt werden die Rohre von der italienischen Spezialfirma Saipem; die Tochter des staatlichen Ölkonzerns Eni gilt als Marktführer beim Bau von Plattformen und Pipelines im Offshore-Geschäft und hat drei seiner größten Spezialschiffe für das Projekt hergerichtet: Die „Solitaire“ arbeitet vor der russischen Küste, die „Castoro 6“ ist vor Gotland im Einsatz und die „Castoro 10“, auch „C10“ genannt, wird derzeit in Rotterdam für die Arbeiten aufgerüstet, die im Juni im Greifswalder Bodden beginnen sollen.

Die C10 ist alles andere als eine Schönheit. Auf dem Heck befindet sich eine gewaltige Hubschrauberplattform, gegen die die Kommandobrücke daneben eher winzig wirkt. Weit sichtbar ragen die 40 m langen Ausleger der beiden 60-t-Kräne in die Luft. Mit ihnen werden die Rohre von den Zuliefererschiffen auf das Oberdeck gehievt.

Im Grunde genommen ist die C10 nicht einmal ein Schiff, sondern eine schwimmende Arbeitsplattform: „Sie hat keinen eigenen Antrieb“, erläutert Kapitän Lezza. Zu ihrem Einsatzort wird die Plattform von Schleppern gezogen.

Einmal unterwegs, wird die C10 von offenen Schleppern mit Röhren versorgt. Die jeweils 12,5 m langen Röhren mit ihren 1153 mm Durchmesser sind aus hochfestem, bis zu 41 mm dicken Stahl. Noch an Land bekommen sie eine schwere Betonummantelung – das Gesamtgewicht von 24 t pro Röhre soll die Pipeline am Boden halten. Für den deutschen Abschnitt der Ostsee-Pipeline werden sie im alten Fährhafen Mukran auf Rügen mit Beton und Korrosionsschutz ummantelt.

Einmal auf der C10, wird der Betonmantel an den Enden wieder ein Stück abgefräst. In einem ersten Arbeitsgang schweißen Roboter – unter den wachsamen Augen der Spezialisten – die Rohre zusammen, dann wird die Naht mit Ultraschall kontrolliert. Die Schweißstelle wird schließlich mit einer Kunststoffhaut überzogen.

„Wir produzieren just in time und ohne Unterbrechung“, erläutert Frank Dudley, Sprecher des Pipeline-Konsortiums „Nord Stream“. Auf zwei parallelen Schweißstraßen entstehen auf der C10 zwei Röhren gleichzeitig, sodass die Zulieferung zur eigentlichen Pipeline-Produktion ohne Unterbrechung läuft: „Sieben Tage in der Woche, 24 Stunden, rund um die Uhr, und das ein ganzes Jahr“, betont Dudley. Nach einer kurzen Pause an Land geht es dann erneut auf See zur Verlegung der Parallelpipeline.

Während der Verlegearbeiten bewegt sich die Plattform mithilfe von vier Ankern vorwärts, die von Schleppern an die richtige Stelle in der Ostsee gebracht und dort versenkt werden. Mit ihren acht Winden, die der Kapitän von einem Fahrstand auf der Kommandobrücke aus steuert, zieht sich die C10 dann vorwärts. „Hier ist Präzision gefragt“, sagt Kapitän Lezza.

Während das Schiff so über die Ostsee kriecht, gleitet die an Bord zusammengeschweißte Pipeline über das Heck der Plattform in einem gewaltigen Bogen auf den Meeresboden: „Eine falsche Positionierung oder eine plötzliche Bewegung könnte zum Brechen der Pipeline führen“, so Lezzo, ein schmächtiger Mann, den die Jahre auf der C10 haben grau werden lassen.

Denn vor allem eines darf die C10 während der Verlegung nicht: stehen bleiben. „Dann wäre die Last auf den Röhren zu groß und sie würden reißen“, sagt Dudley und wirft dabei einen nachdenklichen Blick auf die Schweißer, die stundenlang im Bauch der C10 den Ernstfall üben. Gerade montieren sie den Schweißroboter auf eine neue Naht. Dass die Verlegung der Ostsee-Pipeline keine Routine wird, darüber sind sie sich einig. „Wir wissen, was wir können, aber dieses Projekt ist etwas ganz Besonderes“, sagt einer von ihnen.

Auch Nord Stream hat sich lange auf die Pipeline vorbereitet. Jeder Zentimeter Meeresboden wurde genau untersucht und erfasst: Nicht nur, weil die Ostsee als besonders schützenswertes Gebiet gilt, sondern auch, weil dort nach den Weltkriegen Tonnen von Munition und gefährlicher Giftgasgranaten versenkt wurden. Außerdem liegen dort Wracks aus mehreren Jahrhunderten – um einen mittelalterlichen Schiffsfriedhof zu schützen, musste die Pipelinetrasse um etliche Kilometer verschoben werden.

Aber trotz der intensiven Vorbereitung erlebten die Planer Überraschungen, mit denen niemand gerechnet hätte. „Röhren für Unterwasser-Pipelines sind weltweit 12,5 m lang“, erläutert Dudley. „Darauf sind alle Abläufe und technischen Geräte auf Plattformen wie der Castoro 10 eingerichtet. Aber russische Röhren sind nur 10 m lang, weil dort bisher nur Land-Pipelines gebaut wurden“, weiß Dudley. „Da haben die Russen eigens für das Pipeline-Projekt eine Röhrenfabrik in Deutschland gekauft, sie demontiert und in Russland wieder aufgebaut.“

Weil für den Bau der Pipeline und ihren Betrieb nicht nur große Fragen, sondern auch winzige Details entscheidend sind, werden die 120 Arbeiter an Bord der „Castoro 10“ jetzt nach und nach ins Feuer geschickt. Unter Anleitung trainieren sie jeden Arbeitsschritt entlang der „line of fire“. Ununterbrochen hört man das Zischen der zweiteiligen Schweißautomaten, die die Röhrensegmente zusammenschweißen. Der eine Teil des Automaten zieht von innen die Schweißnaht, der andere von außen. Beide Bewegungen müssen absolut synchron laufen, sonst drohen Haarrisse in der Verbindung.

Trotz ihres enormen Gewichts müssen die Rohre mit einer Toleranz von Millimeter-Bruchteilen exakt ausgerichtet sein. „Das muss einfach sitzen, eine kaputte Schweißnaht oder andere Probleme können wir uns später auf See nicht leisten“, erläutert einer der Arbeiter. Schweiß rinnt ihm von der Stirn, als er sein Helmvisier hochklappt, denn trotz der moderaten Temperaturen und ruhigen Verhältnisse, die derzeit noch an der „Feuerlinie“ herrschen, macht die schwere Schutzkleidung jede Bewegung zur Kraftanstrengung. „Daran werden wir uns gewöhnen müssen, aber dafür verdienen wir auch ein bisschen mehr als anderswo.“

Das „bisschen mehr“ gilt auch für die Maschinen an Bord. „Zwei Jahre“, so Dudley, „müssen sie ununterbrochen laufen“. Nord Stream ging deshalb auf Nummer sicher: „Alle relevanten Maschinen an Bord wurden durch neue ersetzt“, so Dudley und hebt warnend die Hand, als die Motoren der Förderstrecke laut zu brummen beginnen und eine der Röhren in Richtung Heck rumpelt. In ein paar Tagen werden die Rohe dann in der Ostsee versinken – bis dahin wird weiter trainiert. WOLFGANG HEUMER

 

Ein Beitrag von:

  • Wolfgang Heumer

    Der Autor hat mehr als zehn Jahre als Redakteur und Redaktionsleiter für verschiedene Tageszeitungen gearbeitet. Seit 1998 ist er freiberuflich mit den Schwerpunkten Wirtschaft, Technik und Wissenschaft für Magazine, Agenturen, Tageszeitungen und fachlich geprägte Medien tätig.

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