Freiwillige messen in Japan Strahlenwerte
Auch ein Dreivierteljahr nach der Havarie des Kernkraftkomplexes von Fukushima stellt die japanische Regierung keine einfach auszuwertenden Strahlungsdaten zur Verfügung. Daher werten Freiwillige die Daten übersichtlich aus – und konterkarieren damit die japanische Evakuierungspolitik.
Für die Menschen, die heute noch in der Umgebung des havarierten Kernkraftwerks Fukushima leben, ist es wichtig zu erfahren, wo wie viel Radioaktivität vorhanden ist. Die japanische Regierung veröffentlicht zwar ihre Messdaten, doch es bestehen Zweifel daran, ob die Messdaten ausreichend sind.
Laut Chris Wang vom Tokyo Hackerspace – einem Ort, an dem sich Hacker austauchen – laufen Behördenmitarbeiter mit ihren Geräten von Ort zu Ort und notieren sich jeweils die Ergebnisse. Seiner Ansicht nach muss das jedoch automatisiert erfolgen: Man fährt beispielsweise mit einem Auto durch die Gegend, das Gerät misst laufend die Strahlendaten und gibt sie in sehr kurzen Zeitabständen über eine Schnittstelle an ein Aufzeichnungsgerät.
Open-Data-Projekt Safecast: Fukushima-Strahlenwerte erstmals flächendeckend dargestellt
Freiwillige haben sich daher in dem Open-Data-Projekt Safecast zusammengefunden, um die staatlichen Daten zu überprüfen und mit eigenen Messwerten zu ergänzen. Im Rahmen des Projekts erhielten bislang 150 Freiwillige Geigerzähler, mit denen sie in der Provinz Fukushima die Strahlung messen. Die Daten stellte Safecast im Web auf einer Karte dar – und konnte so in einem weiten Umkreis von Fukushima Strahlendaten nicht punktuell, sondern erstmals flächendeckend darstellen.
So ist zu erkennen, dass im unmittelbaren Umfeld des Kraftwerks die gemessenen Werte sehr stark variieren. Es gibt Strahlenwerte, die etwa südlich des Kraftwerks vergleichbar niedrig und eine ähnliche Strahlenintensität aufweisen wie in Tokio. Hingegen zieht sich in Richtung Nordwesten eine regelrechte Schneise stark erhöhter Radioaktivität.
Eine Evakuierungspolitik, die sich nach einem kreisförmigen Abstand zum Kraftwerk orientiert, macht demnach offenbar nur eingeschränkt Sinn. Vorgestellt wurde das Projekt auf dem Symposium „Learning from Fukushima“ in Berlin.
Safecast startete bereits eine Woche nach der Fukushima-Katastrophe
Das Projekt wurde eine Woche nach dem Beben ins Leben gerufen von Sean Bonner, dem Gründer eines Hackerspace in Los Angeles, von Joi Ito, Direktor am Media Lab des Massachusetts Institute of Technology, sowie von Pieter Franken, einem Gastdozent an der Keio-Universität in Tokio. Das Geld sammelten sie über das Crowdfunding-Portal Kickstarter, außerdem fördert die amerikanische Knight-Stiftung seit Kurzem das Projekt. Andere Projekte, die wie rdtn.org oder geigercrowd.net mit einem ähnlichen Konzept kurz nach der Havarie an den Start gingen, haben inzwischen aufgegeben.
Geld allein für die Beschaffung der Geigerzähler genügte den Safecast-Projektmachern im Übrigen nicht. Denn im März 2011 waren Geigerzähler auf dem Markt nur schwer erhältlich. Mit der plötzlichen Nachfrage tauchten jedoch veraltete, teils kaputte Geigerzähler aus der Ukraine und Russland auf. Daher mussten die Safecast-Aktivisten zunächst eigene Geräte zusammenschrauben, die über GPS-Modul die gemessenen Daten verorten und alle 5 s aufzeichnen können. Außerdem sorgten sie dafür, dass sich die Daten über eine Schnittstelle einfach auslesen lassen, um sie ohne große Umwege im Netz veröffentlichen zu können. Inzwischen kooperiert Safecast mit dem Gerätehersteller International Medcom. Ergänzt werden die mobilen Messungen durch rund 300 fest installierte Messgeräte.
Safecast stellt Strahlenwerte frei zur Verfügung
Safecast verfügt heute mit über 1 Mio. Datenpunkte über die umfangreichste Strahlendatensammlung in Japan. Safecast stellt seine Daten frei zur Verfügung, etwa über die Open-Data-Plattform Pachube. Auf Pachube sind 70 Datenfeeds aktuell verfügbar, die teilweise täglich aktualisiert werden. Hinzu kommen zahlreiche andere Datenstreams, die von weiteren Freiwilligen auf Pa-
chube hochgeladen werden.
Auch die staatlichen Daten spielen dabei eine Rolle: Andreas Schneider vom gemeinnützigen Tokioter Institute for Information Design Japan sammelt die Messdaten, die die Regierung bislang nicht an einer zentralen Stelle zur Verfügung stellt, um sie für den normalen Bürger verständlich aufzubereiten.
Schneider sagte Zeit online: „Die Radiation Maps werden irgendwo auf deren Webseiten mit kryptischen Dateinamen angezeigt. Sie ändern ständig ihre Dateinamen und dadurch ihre Position auf den Servern.“ Die Daten muss er teilweise sogar per Hand übertragen, wenn sie nicht in einem maschinenlesbaren Format geliefert werden.
Was die Daten konkret bedeuten, darüber muss erst ein gesellschaftlicher Diskurs in Gang kommen. So sind etwa die Strahlenwerte in Los Angeles höher als die in Tokio, meint Sean Bonner. Die Strahlung nach der Havarie ist in Tokio zwar höher als vorher, aber um ihre Gefährlichkeit richtig einzuschätzen, muss sie in einem weltweiten Kontext interpretiert werden.
Ein Beitrag von: