Nachhaltige Transformation 11.10.2024, 14:39 Uhr

Helmholtz-Studie: Wie die Energiewende gelingen kann

Eine neue Helmholtz-Studie entwirft integrative Szenarien: Für eine nachhaltige Transformation müssen auch soziale und ökonomische Aspekte einbezogen werden

Die Helmholtz-Gemeinschaft hat integrative Szenarien entwickelt, mit denen eine nachhaltige Transformation der Energiewirtschaft gelingen soll. Foto: PantherMedia /
Randolf Berold

Die Helmholtz-Gemeinschaft hat integrative Szenarien entwickelt, mit denen eine nachhaltige Transformation der Energiewirtschaft gelingen soll.

Foto: PantherMedia / Randolf Berold

Die Energiewende ist eines der ehrgeizigsten Projekte der deutschen Politik, das den Übergang von einem Energiesystem, das stark auf fossilen Brennstoffen basiert, hin zu einem nachhaltigeren, emissionsarmen Modell vorsieht. Doch der Erfolg dieser Wende erfordert mehr als nur technologische Innovationen. Sie verlangt ein tiefes Verständnis für die Verzahnung von Technologie, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Das ist das Ergebnis einer Studie, die von der Helmholtz-Gemeinschaft veröffentlicht wurde.

Zusammenarbeit verschiedener Helmholtz-Institute

Wie eine nachhaltige Transformation des Energiesystems gelingen kann, skizzieren Forscher des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT), des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) und des Forschungszentrums Jülich (FZJ). In einem „Policy Briefing“ analysieren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Helmholtz-Gemeinschaft dabei mögliche Zukunftsszenarien und beziehen ökologische, ökonomische, institutionelle, organisatorische und soziale Aspekte ein.

„Kern unserer Analysen sind soziotechnische Energieszenarien und eine Abschätzung ihrer jeweiligen Auswirkungen hinsichtlich Nachhaltigkeit“, sagt Jürgen Kopfmüller vom Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse des KIT. „Wir möchten der Politik damit gute Entscheidungsgrundlagen anbieten, um unser Energiesystem bis 2045 nachhaltig und klimaneutral umzubauen.“ Der integrative Szenarioansatz werde dabei der Komplexität besser gerecht als viele derzeit diskutierte Szenarien.

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Elektrifizierung als Eckpfeiler der Energiewende

Die zentrale Rolle der Elektrifizierung ist unbestreitbar. Strom, der aus erneuerbaren Quellen wie Wind und Sonne erzeugt wird, muss fossile Brennstoffe in nahezu allen Sektoren ersetzen. Dies ist nicht nur für die Stromerzeugung, sondern auch für industrielle Prozesse, den Gebäudesektor und den Verkehr von entscheidender Bedeutung. Die Herausforderung besteht darin, die Stromproduktion so stark auszubauen, dass sie den steigenden Energiebedarf decken kann.

Ein großes Hindernis ist die schwankende Verfügbarkeit von Wind- und Solarenergie, da diese stark wetterabhängig sind. Um diese Herausforderung zu bewältigen, ist es notwendig, Speicherkapazitäten und intelligente Netze zu schaffen, die in der Lage sind, Energie dann zu liefern, wenn sie gebraucht wird. Ein Beispiel hierfür sind Batteriespeicher, die überschüssigen Strom speichern können, wenn die Nachfrage gering ist, und diesen dann wieder ins Netz einspeisen, wenn die Nachfrage steigt.

„Die Elektrifizierung von Produktions- und Transportprozessen sollte im Zentrum künftiger Strategien stehen. Wir brauchen eine räumliche und zeitliche Flexibilität im Stromsektor, voraussichtlich ergänzt durch den Einsatz von vorwiegend importiertem grünem Wasserstoff“, sagt Professor Patrick Jochem vom DLR-Institut für Vernetzte Energiesysteme.

Technische Anforderungen an das Stromnetz

Ein großes Hindernis auf dem Weg zu einem vollständig elektrifizierten Energiesystem ist die Notwendigkeit, das bestehende Stromnetz umfassend zu modernisieren und auszubauen. Es wird geschätzt, dass der Stromverbrauch in Deutschland bis 2045 auf etwa 1.100 bis 1.300 TWh ansteigen wird​, so die Zahlen aus der Helmholtz-Studie.

Die zunehmende Elektrifizierung erfordert deshalb den Ausbau der Stromnetze auf allen Ebenen: von den Übertragungsnetzen, die den Strom über weite Strecken transportieren, bis hin zu den Verteilnetzen, die den Strom in die Haushalte und Unternehmen liefern.

Eine besondere Herausforderung stellt die zeitliche und räumliche Diskrepanz zwischen Stromerzeugung und -verbrauch dar. Der Bau neuer Stromtrassen und die Schaffung flexibler Speichersysteme sind daher unverzichtbar, um die Netzstabilität zu gewährleisten.

„Die Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen muss in Deutschland also viel schneller ausgebaut werden“, so Jochem. „In unseren Szenarien sehen wir einen notwendigen Anstieg der installierten Leistung bis 2045 bei Photovoltaik auf 370 bis 435 Gigawatt, bei Windkraft an Land auf 210 bis 220 Gigawatt und bei Windkraft auf See auf 53 bis 70 Gigawatt. Das ist mehr als das Dreifache der heute installierten Leistungen. Durch Aufstockung der bestehenden Anlagen käme das aber nicht einer Vervierfachung der Anlagenbestände gleich.“

Die Rolle des Wasserstoffs in der Dekarbonisierung der Industrie

Wasserstoff wird zunehmend als essenzieller Energieträger für die Bereiche betrachtet, die nicht direkt elektrifiziert werden können. Besonders die Schwerindustrie, wie die Stahl- und Chemieindustrie, sowie der Schwerlastverkehr, einschließlich Schiffs- und Luftverkehr, werden in absehbarer Zeit noch nicht vollständig mit Strom aus erneuerbaren Quellen betrieben werden können.

Wasserstoff spielt hierbei eine Schlüsselrolle. In der Stahlindustrie beispielsweise könnte der Einsatz von Wasserstoff die derzeit kohlenstoffintensiven Prozesse der Stahlerzeugung durch einen emissionsfreien Prozess ersetzen, so das Forschungsteam, das die Studie erstellt hat. Wasserstoff könnte zudem als Langzeitspeicher für überschüssige erneuerbare Energie dienen, die bei Bedarf rückverstromt werden kann. Dies wird als entscheidendes Puzzleteil in der Industrieumstellung betrachtet.

Importabhängigkeit von Wasserstoff

Ein großes Problem ist jedoch, dass Deutschland nur einen Bruchteil des benötigten Wasserstoffs selbst herstellen kann. Schätzungen zufolge wird der Wasserstoffbedarf im Jahr 2045 zwischen 450 und 570 TWh jährlich betragen​, so die Studie. Davon kann etwa ein Viertel durch inländische Produktion gedeckt werden, während der Rest importiert werden muss. Dies macht Deutschland abhängig von internationalen Lieferanten und erfordert den Aufbau einer globalen Wasserstoffinfrastruktur, die den Transport und die Verteilung des Gases sicherstellt.

Ein weiteres Risiko liegt in den geopolitischen Abhängigkeiten, die durch die Konzentration auf wenige Wasserstofflieferanten entstehen könnten. Eine Diversifizierung der Lieferländer sowie der Aufbau langfristiger Energiepartnerschaften mit stabilen und verlässlichen Staaten sind hier essenziell, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten und geopolitische Risiken zu minimieren.

Herausforderungen im Wärme- und Gebäudesektor

Der Wärme- und Gebäudesektor ist für etwa ein Drittel der gesamten CO₂-Emissionen verantwortlich und stellt eine der größten Herausforderungen der Energiewende dar. Der Energiebedarf in diesem Bereich basiert nach wie vor stark auf fossilen Brennstoffen wie Öl und Gas.

Um die Energiewende im Gebäudesektor zu realisieren, müssen laut Forschungsteam umfangreiche Maßnahmen ergriffen werden, darunter die energetische Sanierung bestehender Gebäude, die Verbesserung der Energieeffizienz und der Umstieg auf klimafreundliche Technologien wie Wärmepumpen.

Wärmepumpen und Netzausbau

Wärmepumpen gelten als eine der vielversprechendsten Technologien, um den Wärmebedarf von Gebäuden zu decken, ohne dabei CO₂-Emissionen zu verursachen. Sie nutzen die Umgebungswärme aus Luft, Wasser oder Erdreich und wandeln diese in Heizenergie um. Um die ehrgeizigen Klimaziele zu erreichen, müsste bis 2045 ein Großteil der Gebäude mit Wärmepumpen ausgestattet werden, sind sich die Forschenden in der Studie sicher.

Parallel dazu muss das Stromnetz erweitert und modernisiert werden, um die zusätzliche Belastung durch den Einsatz von Wärmepumpen sowie die Elektromobilität zu bewältigen. Insbesondere in ländlichen Gebieten, wo die Stromnetze oft weniger robust sind, ist ein umfassender Netzausbau erforderlich, um den erhöhten Energiebedarf zu decken.

Rohstoffversorgung: Ein kritischer Punkt

Die Energiewende erfordert eine erhebliche Menge an strategischen Rohstoffen, die für den Bau von Batterien, Windkraftanlagen, Solarmodulen und anderen Technologien benötigt werden. Rohstoffe wie Lithium, Kobalt, Nickel und seltene Erden sind laut Studie für die Herstellung dieser Technologien unverzichtbar. Der weltweite Bedarf an diesen Rohstoffen steigt rasant an, was zu Versorgungsengpässen und Preisanstiegen führen könnte.

Deutschland ist stark von Rohstoffimporten abhängig, was es anfällig für geopolitische Risiken macht. Um diese Risiken zu minimieren, sind mehrere Ansätze erforderlich: erstens die Erhöhung der Materialeffizienz, zweitens die Entwicklung von Recyclingtechnologien, die es ermöglichen, wertvolle Rohstoffe aus ausgedienten Geräten und Batterien zurückzugewinnen, und drittens die Erforschung und Nutzung alternativer Materialien.

Soziale Dimension: Akzeptanz und Gerechtigkeit

Neben den technischen und wirtschaftlichen Herausforderungen bringt die Energiewende auch erhebliche soziale Veränderungen mit sich. Die Akzeptanz in der Bevölkerung ist entscheidend, um die ehrgeizigen Klimaziele zu erreichen. Dies gilt insbesondere für den Bau neuer Infrastrukturprojekte wie Windkraftanlagen, Stromtrassen und Speichereinrichtungen, die oft auf Widerstand in der Bevölkerung stoßen.

Eine faire Verteilung der Kosten der Energiewende ist ebenfalls entscheidend. Haushalte mit geringem Einkommen könnten laut den Autoren der Studie überproportional durch steigende Energiekosten belastet werden. Um dies zu verhindern, müssen gezielte Maßnahmen ergriffen werden, um einkommensschwächere Haushalte zu entlasten, sei es durch Energiezuschüsse oder den Ausbau von Sozialtarifen.

Internationale Zusammenarbeit und globale Verantwortung

Die Energiewende ist eine globale Aufgabe. Kein Land kann die Herausforderungen des Klimawandels und der Energiewende im Alleingang bewältigen. Deshalb ist internationale Zusammenarbeit von zentraler Bedeutung. Deutschland muss eng mit seinen europäischen Nachbarn und internationalen Partnern zusammenarbeiten, um eine gemeinsame Energiestrategie zu entwickeln.

Eine Schlüsselrolle spielt die Integration des deutschen Strommarktes in das europäische Stromnetz. Dies würde es ermöglichen, überschüssige erneuerbare Energie effizient zwischen den Ländern zu verteilen und Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Gleichzeitig sollte Deutschland durch Technologietransfers und Partnerschaften die Energiewende in Entwicklungsländern unterstützen, um deren CO₂-Emissionen zu reduzieren.

Innovation als Triebfeder der Energiewende

Um die Energiewende zu beschleunigen, sind laut Studie kontinuierliche Investitionen in Forschung und Entwicklung notwendig. Neue Technologien, die die Effizienz steigern und den CO₂-Ausstoß verringern, sind entscheidend, um die Klimaziele zu erreichen. Innovationen in Bereichen wie Speichertechnologien, Wasserstoffproduktion und smarten Energienetzen sind von zentraler Bedeutung.

Unternehmen und Start-ups spielen eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung und Implementierung dieser Technologien. Die Politik muss Rahmenbedingungen schaffen, die Innovationen fördern, indem sie Forschung und Entwicklung finanziell unterstützt und ein innovationsfreundliches regulatorisches Umfeld bietet.

„Insgesamt steigern die untersuchten Transformationsstrategien die Wertschöpfung im Inland“, betont Dr. Stefan Vögele vom Institute of Climate and Energy Systems – Jülicher Systemanalyse. Arbeitsplätze in energieintensiven Industrien würden vermutlich verlagert, aber nicht zwingend reduziert. „Die Politik muss allerdings Sorge tragen, mögliche zusätzliche Belastungen für Haushalte mit geringem Einkommen zu minimieren – auch, um die Akzeptanz der Energiewende nicht zu gefährden“, so Vögele.

Zur Studie „Die Energiewende integrativ denken“

Ein Beitrag von:

  • Dominik Hochwarth

    Redakteur beim VDI Verlag. Nach dem Studium absolvierte er eine Ausbildung zum Online-Redakteur, es folgten ein Volontariat und jeweils 10 Jahre als Webtexter für eine Internetagentur und einen Onlineshop. Seit September 2022 schreibt er für ingenieur.de.

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