Historie aufgearbeitet: Störfälle wurden über Jahre vertuscht
Im 1988 stillgelegten Forschungsreaktor in Jülich sind in den 21 Betriebsjahren offenbar zahlreiche Störfälle vertuscht worden. Dies hat eine Expertengruppe herausgefunden, die mit der Aufarbeitung der Historie beauftragt wurde.
Nach der Atomkatastrophe von Fukushima im März 2011 setzten das Forschungszentrum Jülich und die „Arbeitsgemeinschaft Versuchsreaktor“ (AVR) eine unabhängige Expertengruppe ein, um die Historie des Atomreaktors aufzuarbeiten.Deren Abschlussbericht wurde gestern veröffentlicht.
1978 drangen danach 27.000 Liter Wasser in den inneren Teil des Reaktors ein. Erst sechs Tage nach Beginn des Störfalls hatte das Personal damals den Reaktor heruntergefahren. Der Aufsichtsbehörde meldeten die Betreiber einen Störfall der niedrigsten Meldekategorie „N“, also eine „geringe sicherheitstechnische Bedeutung“. Diese Meldung stuft der Bericht nun als „nicht sachgerecht“ ein.
Die automatische Notabschaltung wurde überbrückt
Die Techniker haben laut Bericht die Notabschaltung so manipuliert, dass trotz gemessener „zu hoher Kühlgasfeuchte“ eine automatische Notabschaltung überbrückt wurde. „Der Messbereich wurde noch weiter verstellt, um eine Schnellabschaltung zu vermeiden“, heißt es. Im Klartext: Das Notfallsystem wurde bewusst abgeschaltet.
In vielen Fällen ging es offenbar ähnlich kreativ zu in Jülich. Insgesamt wurden dort bis zum Betriebsende 1988 ohnehin nur 48 Ereignisse gemeldet – „deutlich weniger als bei anderen deutschen Kernkraftwerken“. Bei Stichproben in den vorgelegten Dokumenten fanden sich aber Hinweise auf andere – nicht gemeldete – Ereignisse: ein Säureeinbruch 1971, eine unbeabsichtigte Kettenreaktion 1977, ein Gebläse-Schaden 1978, wiederholte Störungen an der Beschickungsanlage für den aus rund 100.000 kleinen Brennstoffkugeln bestehenden Reaktorkern.
Dahinter steckte offenbar System. So wurde der Reaktor zeitweise mit acht verschiedenen Arten von Brennelementtypen betrieben. Der Berliner Atomexperte und Buchautor Gerd Rosenkranz urteilt, dass es ausgeschlossen sei, hier noch „reproduzierbare Ergebnisse“ zu erhalten. Rosenkranz erschüttert vor allem, dass man damals trotz offenbar „grundsätzlicher Probleme“ mit dem Reaktor in der ganzen Welt mit diesem Reaktorkonzept „hausieren gegangen“ sei, um die Technik anzupreisen.
14 Jahre lang keine Temperaturmessungen
Die Temperatur im Reaktor war laut den Experten sehr viel höher, als es die Berechnungen erlaubten. Die kreative Reaktion der Betreiber: Sie schraubten einfach den Grenzwert in die Höhe. Eine Messung beispielsweise mit sogenannten „Monitorkugeln“ bewies, dass mit den Temperaturen etwas nicht stimmte. Dennoch erfolgte zwischen 1972 und 1986, also über 14 Jahre hinweg „keine weitere Temperaturmessung mit Monitorkugeln“, obwohl sich „viele einschlägige Randbedingungen geändert hatten“, schreiben die Experten in ihrem vernichtenden Bericht. Fazit der Gutachter: „Für die Expertengruppe ist nicht nachvollziehbar, warum zwischen 1972 und 1986 keine weitere Temperaturmessung mit Monitorkugeln erfolgte.“
„Die Experten konnten bestätigen, dass Menschen und Umwelt durch den Betrieb keiner radiologischen Gefahr ausgesetzt waren“, heißt es in einer offiziellen Stellungnahme des Forschungszentrums Jülich, die gemeinsam mit der AVR die Studie in Auftrag gegeben hatte. Mitglieder der Expertengruppe waren Diplom-Physiker Christian Küppers, Reaktorsicherheitsexperte Lothar Hahn, Prof. Dr. Volker Heinzel als ehemaliger Leiter des Instituts für Reaktorsicherheit in Karlsruhe sowie Dipl.-Ing. Leopold Weil, zuletzt Leiter des Fachbereichs „Sicherheit in der Kerntechnik“ beim Bundesamt für Strahlenschutz.
Tritium gelangte 1978 in die Umgebung
Fakt ist: Beim Dampferzeugerstörfall im Jahre 1978 kam es zu erhöhter radioaktiver Freisetzung im Inneren. Solche Kontaminationen beim Reaktorbetrieb können „insbesondere die Strahlenexposition des Betriebspersonals bei Arbeiten am Primärkreis erhöhen“. Tritium gelangte übrigens auch in die Umgebung. Allerdings gab es dafür 1978 noch keinen Grenzwert: „Der später festgelegte Grenzwert wäre aber etwa um das Dreifache überschritten worden.“
Für die Zeit des Atomaufbruchs beim Hochtemperaturreaktor (HTR) in Jülich machten die Experten Verhaltensweisen aus, „die einerseits ein ausgeprägtes Überlegenheitsgefühl aufwiesen, anderseits aber auch eine unzureichende Fähigkeit zur Selbstkritik und eine Unterschätzung beim HTR-Konzept und bei konkreten Anlagen erkennen ließen“. Der Vize-Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion Oliver Krischer erklärte: „Sogar ein Super-GAU mit Tschernobyl-Folgen war etwa bei dem sogenannten Wassereinbruchsstörfall im Jahr 1978 nicht ausgeschlossen.“
Gravierende Fehler auch auf Seiten des Forschungszentrums
Zusammengefasst zeigt der Bericht, dass es in den 21 Betriebsjahren gravierende Fehler und Versäumnisse auch auf Seiten des Forschungszentrums gegeben hat. „Dies bedauern wir ausdrücklich“, heißt es kleinlaut in der Stellungnahme. Die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis seien damals nicht immer eingehalten worden. „Mittlerweile sind solche Regeln seit über zehn Jahren für das Forschungszentrum schriftlich fixiert.“ Die Ergebnisse der Experten verstehe man als Mahnung, „der eigenen Forschung gegenüber kritisch zu bleiben.“
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