Hochwasserschutz beginnt am Oberstrom – und endet im Keller
Im Kampf gegen überlaufende Flüsse ist es nur begrenzt sinnvoll, Dämme, Deiche und Schutzmauern immer höher zu bauen. Experten raten stattdessen dazu, den Strömen frühzeitig Retentionsräume zur Verfügung zu stellen. Außerdem sollten Häuser besser auf drohende Fluten vorbereitet werden – etwa, indem Heizungen in höhere Etagen verlagert werden.
Der wirkungsvollste Hochwasserschutz für Städte und Gemeinden in der Nähe von Flüssen beginnt weit oberhalb der Kommunen. Das sagt der Hydrologe Prof. Dr. Günter Meon. Weil aber auch Staubecken, flussbegleitende Polder und andere sogenannte Retentionsräume Hochwasserwellen nur begrenzt abmindern können, plädiert der Experte des Leichtweiß-Instituts für Wasserbau an der Technischen Universität Braunschweig dafür, möglichen Schäden durch Überschwemmungen besser vorzubeugen: „Wir brauchen ein besseres Hochwasser-Risikomanagement, in dem Vorsorge und Bewältigung integriert sind“, lautet sein Fazit aus den aktuellen und früheren Flutkatastrophen.
Flutwellen brauchen Ausweichmöglichkeiten am Oberstrom
Deiche und Schutzmauern können die extremen Wassermassen nach lang anhaltenden Starkregenfällen nur bis zu bestimmten Höhen aufhalten. Deswegen sei es wichtig, der Flutwelle schon im Oberstrom Ausweichmöglichkeiten zu geben, sagt Meon. Eindrucksvolles Beispiel ist für ihn der Sylvensteinspeicher: Der Stausee im Isarwinkel bei Lenggries (Landkreis Bad Tölz) wurde rechtzeitig genug als Auffangbecken genutzt, um München vor einer Katastrophe zu schützen. Der Wasserspiegel des knapp 125 Mio. m3 fassenden Stausees lag zum Höhepunkt der Flut 13 m über dem normalen Level: „Ohne diese Rückhaltemaßnahme wären in der Isar 1300 m3 Wasser pro Sekunde durch München geflossen. Der Marienplatz hätte einen Meter unter Wasser gestanden“, weiß Meon von Kollegen in der bayerischen Landeshauptstadt.
Bei diesen Rückhaltemaßnahmen unterscheiden Fachleute zwischen „gesteuerten“ und „ungesteuerten“ Räumen. Zu den ersteren zählen Becken wie der Sylvensteinspeicher, aber auch gezielt geflutete Polder neben Flussläufen. Solche Polder werden durch eine Rückverlegung der Schutzdeiche geschaffen. Aus Gründen des Naturschutzes werden die gewonnenen Vorländer jedoch meist natürlich, das heißt ungesteuert, geflutet. „Hier steigt das Wasser bei Ausuferung aus dem Hauptbett langsam an, breitet sich aus, durchfließt die Aue und wird unterhalb der Rückdeichung wieder in das Hauptbett gezwängt. An den Seiten fließt das Wasser deutlich langsamer als im eigentlichen Flussbett“, so Meon.
Die ungesteuerten Räume sind jedoch bei extremem und lang dauerndem Hochwasser schon vor Eintreffen des Scheitels gefüllt. Der Scheitel kann dann in Richtung Unterstrom nicht mehr abgemindert werden. Meon plädiert deshalb für gesteuerte Polder, die sich erst nach Öffnen von Regelbauwerken wie eine Badewanne füllen. Die Füllung wird wieder in den Hauptstrom abgegeben, wenn das Hochwasser abflaut. Gesteuerte Rückhalteräume flachen somit die Hochwasserwelle effizient ab.
Überflutungsräume oberhalb von Mannheim wirken noch in Köln
Nach einer Reihe spektakulärer Hochwasserkatastrophen wurden solche Flächen im großen Stil am Oberrhein oberhalb von Mannheim und Ludwigshafen geschaffen, unter anderem um die chemische Industrie in Ufernähe vor dem Wasser zu schützen. Mit Erfolg weiß Meon: „Zum Teil ist der Effekt sogar noch in Köln spürbar.“
Dennoch geraten diese gesteuerten Polder immer wieder in die Kritik bei Naturschützern und Landwirten. In flussbegleitenden Rückhalteräumen Auenwälder anzulegen, sei für den Naturschutz sinnvoll, aber für die Abminderung von Hochwasser eher kontraproduktiv, meint Meon. Und den Klagen über Wasserschäden der Bauern, die die Flächen bewirtschaften, hält er entgegen: „Es ist allemal günstiger, die Landwirte nach einem Hochwasser zu entschädigen, als die Schäden in einer überfluteten Stadt zu bezahlen.“
Auch den Vorwurf vieler Naturschützer, die zunehmende Gewalt von Flusshochwässern sei auf die wachsende Versiegelung der Landschaft zurückzuführen, lässt der Braunschweiger Experte nicht gelten: „Anhaltende Regenfälle führen zu einer viel stärkeren Quasi-Versiegelung der Landschaft“, erläutert er. Wenn es so ausdauernd und kräftig regnet wie in den Wochen vor der Hochwasserkatastrophe, „füllt sich der Bodenraum zwischen der Oberfläche und dem Grundwasserspiegel“, sagt Meon. Danach bleibt das Wasser genauso auf der Oberfläche wie auf einem asphaltierten Parkplatz: „Der Effekt ist so groß, dass er auch durch einen kräftigen Rückbau von versiegelten Flächen nicht ausgeglichen werden könnte.“
Boden voller Wasser ist wie eine versiegelte Fläche
Die großen Flutkatastrophen seit der Jahrtausendwende unterstreichen laut Meon, dass eine neue Betrachtungsweise für die Planung von Schutzanlagen erforderlich ist. Bislang wurde die Dimensionierung von Deichen und Flutmauern auf den Schutz vor einem sogenannten Bemessungshochwasser, oft dem 100-jährlichen Hochwasser, ausgelegt: „Das ist aber ein sehr theoretischer Ansatz. In der Praxis kann es jederzeit ein extremes Hochwasser als das Bemessungshochwasser geben.“ Es müssen auch Lastfälle mit extremerem Hochwasser sowie die sozioökonomischen Folgen bei Deichversagen in die Bemessung mit einbezogen werden.
Deiche werden im Grunde genommen immer noch so wie seit jeher aus einem Erdwall errichtet, der nach den Regeln der Bodenmechanik mit Filter- und Deckschichten versehen wird. Heute werden zunehmend Geotextilien zur Abdichtung eingebracht. Die Konstruktion hat sich grundsätzlich bewährt. Die Deichbrüche der vergangenen Tage waren zumeist nicht auf die Wassermengen zurückzuführen. Verantwortlich war viel mehr die lange Zeit, in der das Wasser den Deich aufweichen konnte. Deswegen sei es auch nur begrenzt sinnvoll, Deiche und Schutzmauern noch weiter zu erhöhen. Mobile Schutzmauern, wie sie beispielsweise in Köln als zusätzlicher Hochwasserschutz eingesetzt werden, haben sich laut Meon zwar als kurzfristige Maßnahme bewährt, bergen aber ein Risiko. „Wenn sie nachgeben, läuft das Wasser viel schneller und mit viel größerer Wucht in die Stadt.“
Weil es grundsätzlich ohnehin nicht möglich wäre, sich gegen jedes denkbare Hochwasser zu schützen, plädiert Meon für eine bewusstere Vorbereitung auf denkbare Katastrophen. Dazu zählt er beispielsweise die Optimierung von Hochwasserwarnungen und Einsatzplänen. Gebäude in hochwassergefährdeten Gebieten sollten umgerüstet werden, indem beispielsweise die Keller besser geschützt und neuralgische Teile wie die Heizung in höheren Etagen installiert werden. Doch allein die Angst vor einem möglichen Hochwasser reicht offenbar als Triebfeder für ein frühzeitiges und bewusstes Risikomanagement nicht aus. Nach den großen Flutkatastrophen in den vergangenen Jahren stellten Wissenschaftler des Geoforschungszentrums Potsdam in einer Studie ernüchtert fest: „Es ist nur schwer vorstellbar, dass die Eigenvorsorge in Deutschland so weit geht, dass die Mehrheit der Menschen so viel Vorsorge betreibt, dass sie etwa die Standfestigkeit ihres Hauses verbessert oder ihren Keller abdichtet.“
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