Oberflächlich ist schon wieder Ruhe eingekehrt
Die Journalistin Barbara Odrich berichtet regelmäßig für die VDI nachrichten aus Fernost. Sie lebt in Yokohama, einer japanischen Großstadt im Ballungsgebiet von Tokio. Im folgenden Beitrag schildert sie ihre persönlichen Eindrücke nach der Erdbebenkatastrophe. Demnach bemühen sich die Menschen in den Straßen um Normalität. In ihren Herzen sieht es anders aus.
Knapp zwei Wochen nachdem Japan von der schwersten Naturkatastrophe seit vielen Jahrzehnten heimgesucht wurde, ist zumindest die Hauptstadt Tokio wieder zu einer gewissen Normalität zurückgekehrt. Die Nahverkehrszüge sind zu 80 % wieder in Betrieb, die Supermärkte und viele Restaurants haben wieder geöffnet. Wenn man sich nicht weiterhin Sorgen machen müsste über eine nukleare Katastrophe mit großflächigen Verstrahlungen der Umwelt, könnte man sogar das schöne Frühjahrswetter und die langsam aufblühenden Kirschbäume genießen. Viele Menschen tun das auch – zumindest tun sie so.
Obwohl sich die Situation etwas entspannt hat, fühlt sich das Leben irgendwie anders an. Noch nie habe ich so viele Menschen mit weißen Gesichtsmasken gesehen. Normalerweise tragen Japaner immer dann einen solchen Schutz, wenn sie erkältet sind oder wenn sie im Frühjahr an Heuschnupfen leiden. Derzeit aber scheinen so gut wie alle Japaner diese Masken zu tragen. Ich habe mich dem angeschlossen – sicherheitshalber.
Es sind auffällig weniger Menschen auf den Straßen. Eine leergefegte Geisterstadt, wie es viele ausländische Medien behaupten, ist Tokio aber noch lange nicht.
Dass viele Menschen derzeit lieber abends zu Hause bleiben anstatt shoppen zu gehen oder Freunde zu treffen, liegt an der ungewohnten Dunkelheit in der Stadt. Sie ist das Ergebnis der nationalen Stromsparbemühungen. Selbst Ampeln werden regelmäßig ausgeschaltet. An einer belebten Kreuzung in Yokohama sah ich kürzlich einen Polizisten, der den Verkehr mit einer Art Leuchtstab regelte.
Ungewöhnlich sind auch die Scharen von Fahrradfahrern. Viele Japaner sind inzwischen auf das Fahrrad als Transportmittel umgestiegen.
Erstaunt hat mich dieser Tage auch eine Meldung in den japanischen Nachrichten, dass die Verbraucherministerin Murata Renho erwägt, die Sommerzeit in Japan einzuführen. Gerade im Sommer ist wegen der Klimaanlagen der Stromverbrauch fast doppelt so hoch wie im März. Bisher hat sich Japan immer gegen diese Lösung gesträubt.
Beim Einkauf im Supermarkt sieht auf den ersten Blick alles wieder wie gewohnt aus. Nachdem die Regale tagelang ziemlich leergefegt waren, sind sie inzwischen wieder weitgehend gut gefüllt. Lücken gibt es hier und da immer noch. Was fehlt sind zum Beispiel Klopapier oder Eier. Eine weitere Besonderheit entdeckte ich in der Kühlabteilung meines Supermarktes. An einem Regal wurde provisorisch ein Schild aufgehängt. Darauf steht: „Bitte nur zwei Kartons Milch pro Familie.“ Die Regierung warnt gleichzeitig vor dem Konsum von Milch aus der Region um Fukushima. Besteht da ein Zusammenhang? Auch auf Spinat aus dem Umfeld der beschädigten Reaktoren solle man verzichten. Kein Problem, denn das Gemüse ist zumindest in meinem Umkreis ohnehin nicht mehr zu bekommen.
Dass der Alltag weitergeht zeigt auch, dass der staatliche japanische Fernsehsender, der seit dem 11. März ununterbrochen nur über das Erdbeben und seine Folgen berichtete, inzwischen wieder zu einem normalen Programm übergegangen ist. In meinen Augen ist der Informationsfluss jetzt angemessen. Für mein Empfinden ist die Regierung in ihren Verlautbarungen ungewöhnlich direkt. Es gibt gleichzeitig sehr viele Menschen, die sich beschweren, dass sie nicht wissen, was eigentlich los ist.
Als Journalistin gelte ich im Bekanntenkreis als „gut informiert“. Meine Freunde sagen oft: „Anata no kao ga hiroi“, was soviel heißt wie „Du hast viele Kontakte“. Tatsächlich habe ich einen besseren Zugriff auf internationale Informationsquellen als die meisten Japaner. Deshalb wurde ich in den letzten Tagen immer mal wieder gefragt, ob ich etwas Neues über das KKW Fukushima gehört habe. Mir wird klar, dass sich in diesen unsicheren Zeiten viele Japaner als schlecht informiert sehen und unruhig sind. Das sieht man ihnen auch an.
Mein Mann, der an der Universität Mejiro in Tokio lehrt, bereitet sich zu Hause auf das neue Universitätsjahr vor, das am 1. April beginnt. Er bekam gestern eine E-Mail von der Uni, dass die Abschlussfeier und die anschließende Party Ende des Monats abgesagt ist. Der Grund: Es muss Strom gespart werden. Außerdem sei eine derartig große Veranstaltung wegen drohender neuer Erdbeben und der Unsicherheit über die weitere Entwicklung im havarierten Atomkraftwerk in Fukushima nicht zu verantworten. Das jedes Jahr im April veröffentlichte Universitätsmagazin musste ebenfalls gestrichen werden. Die Lieferwege von Papier und Druckerpatronen sind irgendwo unterbrochen. Als Folge dieser Engpässe fordern die Hersteller derzeit sogar die Tageszeitungen auf, die Seitenzahl zu reduzieren und weniger Bilder zu drucken. BARBARA ODRICH
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