Atomenergie 15.05.2013, 15:19 Uhr

Obrigheim: Das Ende eines Kernkraftwerks

Bis 2022 sollen alle deutschen Reaktoren vom Netz gehen. Mit schwerem Gerät werden die massiven Anlagen dann zerlegt, der strahlende vom ungefährlichen Abfall getrennt und entsorgt. Noch aufwendiger sind die Genehmigungsverfahren und die Logistik. Das zeigt ein Besuch im stillgelegten Kraftwerk in Obrigheim in Baden-Württemberg.

Das 2005 stillgelegte Atomkraftwerk Obrigheim wird derzeit abgebaut.

Das 2005 stillgelegte Atomkraftwerk Obrigheim wird derzeit abgebaut.

Foto: dpa/Matthias Ernert

Von außen sieht das Maschinenhaus noch ganz intakt aus. Innen jedoch klafft ein gewaltiger Krater. Drei Stockwerke tief ist das Loch, in dem einst Dampfturbinen und Generator liefen. Nur die Betonstrukturen des Gebäudes sind geblieben. So soll es demnächst auch im benachbarten Reaktorgebäude aussehen, dem Herz des Kernkraftwerks Obrigheim: Der 250 t schwere Reaktordruckbehälter, der 2 m dicke Betonschild, kontaminierte Rohre – alles muss raus.

Hier, in Obrigheim am Neckar, lässt sich besichtigen, was in den nächsten Jahren allen 17 Kernkraftwerken blüht, die laut Atomausstieg bis spätestens 2022 vom Netz gehen sollen. Es ist eine gewaltige Aufgabe, die spezielle Technologien erfordert, mit aufwendigen Genehmigungsverfahren verbunden ist und einer komplizierten Logistik.

Seit 2008 wird das AKW Obrigheim abgebaut

2008 begann der Betreiber EnBW mit dem Rückbau des Kraftwerks, nachdem es von 1968 bis 2005 kommerziell Strom produziert hatte. Zuerst wurden die „nicht nuklearen“ Teile entfernt, etwa im Maschinenhaus. Nun sind die Arbeiter im Zentrum des Kraftwerks angelangt, dem Reaktorgebäude unter der markanten Betonkuppel. „Früher wären wir an dieser Stelle ziemlich ins Schwitzen geraten“, sagt Manfred Möller, Technischer Geschäftsführer der Anlage, als er durch eine Schleuse mit wuchtigen Stahltüren ins Innere tritt. Das Prinzip eines Kernkraftwerks bestehe nun mal darin, aus der Hitze der Kettenreaktionen Wasserdampf für die Turbinen zu gewinnen. Heute ist es frisch unter der Betonhülle, die sich wie ein fleckig gelber Himmel über die Reste des Reaktors spannt. Die Lüftung rauscht. „Wir arbeiten nach wie vor mit Unterdruck im Gebäude“, erklärt der Ingenieur. „So wird verhindert, dass radioaktive Partikel nach draußen gelangen.“ Die abgesaugte Luft wird durch Schwebstofffilter der Klasse H13 geleitet, bevor sie in den Abluftkamin strömt. Das heißt, mindestens 99,95 % der Aerosole müssen in den feinen Glasfasermatten hängen bleiben. Um die Luftgüte zu kontrollieren, werden ständig Aerosolmonitore eingesetzt.

Möller zeigt auf den Reaktorbehälter in der Mitte, der rund 9 m hoch ist und früher die Brennstäbe enthielt. In diesem Jahr soll der Koloss entfernt werden, sobald die Genehmigung vorliegt. Der Stahlbehälter, Wandstärke 16 cm, ist umschlossen von einer 2 m dicken Betonhülle. Dort haben Fachleute begonnen, eine Seilsäge zu installieren: ein diamantbesetztes Stahlseil, das in Endlosschleife rotiert und sich durch den Beton frisst. Um des Staubes Herr zu werden, stehen überall Folienzelte.

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Reaktorbehälter aus 16 cm starkem Stahl wird zersägt

Der Stahlbehälter soll per Unterwasser-Plasmaschneiden in handhabbare Stücke zerteilt und anschließend verpackt werden. Bei dieser Technik wird zwischen der Schneiddüse und dem Stahl ein Lichtbogen erzeugt. Zusätzlich wird aus der Düse ein Schneidgas geblasen, das durch den Lichtbogen erhitzt und ionisiert – zum Plasma – wird. Mit rund 30 000 °C und nahezu Schallgeschwindigkeit schießt das Gas auf das Metall. An der Auftreffstelle schmilzt der Stahl und wird zugleich weggeblasen. Aus Gründen des Strahlenschutzes wird das Verfahren aus der Ferne gesteuert.

„Wir nutzen bewährte Verfahren, die auch bei anderen Industriedemontagen eingesetzt werden“, sagt Möller. Hier und da werde weiter geforscht, etwa an ferngesteuerten Fräsen und Schneidern, aber im Prinzip sei alles da, was man zum Abbau eines Kernkraftwerks benötige. „Die eigentliche Herausforderung ist die Logistik.“

Das lässt sich gut im Reaktorgebäude erkennen. Auf dem begrenzten Platz drängen sich Arbeitsbühnen, schweres Gerät, armdicke Stahlseile. Eine neue Kranschiene wurde eingebaut sowie eine neue Materialschleuse im Untergeschoss, damit große Teile überhaupt abtransportiert werden können.

Nur 1 % des Reaktors sind radioaktiv

Etwa ein Gewichtsprozent des gesamten Kraftwerks ist laut EnBW radioaktiv und muss gesondert behandelt und entsorgt werden. 99 % sind unbedenklich. Das eine muss vom anderen getrennt werden. Kerntechniker unterscheiden bei den radioaktiven Teilen zwischen „kontaminiert“ und „aktiviert“. Letzteres bedeutet, dass radioaktive Elemente ins Material eingedrungen sind oder sich dort gebildet haben. Das betrifft vor allem den Reaktordruckbehälter.

Kontaminiert hingegen heißt, dass radioaktive Stoffe vor allem auf der Oberfläche sitzen, wie Staub. „Da genügt es manchmal schon, sie gründlich abzuwischen, um die Strahlenbelastung zu verringern“, erläutert Möller. „Dann kann ein Stahlträger direkt verschrottet werden oder ein Betonteil als Rohstoff für den Straßenbau verkauft werden.“

Kein Gegenstand darf das Gelände verlassen, ohne zuvor auf seine Radioaktivität hin geprüft worden zu sein. Betonwände oder sehr große Bauteile werden mit einem Handgerät vor Ort gemessen. Der ganze Rest wird so klein zerlegt, dass er in metergroße Stahlkörbe passt, die durch eine automatische Messanlage fahren. Selbst zusammengefegtes Herbstlaub und alte Bürostühle aus der Leitwarte – alles muss durch die Prüfstrecke.

Was unter dem gesetzlichen Grenzwert liegt, darf auf die Deponie. Was stärker strahlt, wird in Fässer verpackt, die in den Schacht Konrad bei Salzgitter kommen sollen. Dort wird ein Endlager für schwach- bis mittelradioaktive Abfälle gebaut. „Nicht vor 2019“ soll es fertig sein, heißt es vonseiten des Bundesamtes für Strahlenschutz. Viele Experten gehen aber davon aus, dass das Endlager erst einige Jahre nach 2019 verfügbar sein wird. „Wir brauchen Konrad, um das Material, das beim Rückbau anfällt, zügig zu entsorgen“, sagt Ralf Güldner, Präsident des Deutschen Atomforums, eines Interessenverbands der Kerntechnikbranche. „Solange das Endlager nicht eröffnet ist, müssen die Abfälle bei den jeweiligen Kernkraftwerken bleiben.“ Allein in Obrigheim, einer eher kleineren Anlage, werden es rund 2000 t sein.

Brennelemente bleiben vorerst in Obrigheim

Selbst wenn die schwach strahlenden Reste fort sind, die Brennelemente bleiben. Sie müssen laut Atomgesetz so lange „standortnah“ gelagert werden, bis ihre Nachzerfallswärme gering genug ist, dass sie in ein Endlager für hochradioaktiven Abfall gebracht werden können. Doch das ist noch in weiter Ferne. So wird es überall im Land nahe der abgeschalteten Kernkraftwerke weiterhin Betonburgen geben, in denen die strahlenden Reste verwahrt werden.

Das ist auch die Aussicht für Obrigheim. 342 Brennelemente lagern dort, versenkt in Wasser, das sie kühlt und die Strahlung schluckt. Ein lokales Aktionsbündnis warnt, dass wie in Fukushima auch in Obrigheim ein Feuer in diesem Nasslager ausbrechen und Radioaktivität freisetzen könnte. „Laut Stresstest ist das Lager sicher“, sagt EnBW-Sprecher Ulrich Schröder. „Die Brennelemente sind bereits deutlich abgeklungen und sollen bald in 15 Castorbehältern eingelagert werden.“ Diese Behälter sollen das Zwischenlager Obrigheim bilden, das derzeit in der Genehmigungsphase ist.

Mit Anträgen und Genehmigungen, so scheint es, haben bald mehr Menschen zu tun als mit dem Dekontaminieren und Zerlegen des Kraftwerks. „Wir unterliegen dem Atomgesetz, jeder Abbauschritt muss umfassend dargelegt und beantragt werden“, sagt Schröder. Das zuständige Umweltministerium in Stuttgart prüft und entscheidet. „Das dauert oft mehrere Jahre, der eigentliche Rückbau in den einzelnen Etappen geht wesentlich schneller.“

Fürs Schleifen, Trennen und Verladen wird neben Spezialfirmen auch eigenes Personal eingesetzt. So sind in Obrigheim nach wie vor 190 der einst 300 Mitarbeiter tätig. Zu ihren Aufgaben gehört allerdings auch die Überwachung der noch aktiven Anlagenteile. Gerade diese Menschen werden gebraucht, denn sie kennen die Anlagen wie kein anderer.

Rückbau eines AKWs dauert 10 bis 15 Jahre

Doch die Fachkräfte könnten irgendwann fehlen, wenn sich der Rückbau zu lange hinzieht. Ausgeschlossen ist das nicht. Das Deutsche Atomforum nennt allenthalben die Zahl von „zehn  bis 15 Jahren“ für den Rückbau eines Kraftwerks. Ob das immer zu schaffen ist, ist fraglich. EnBW-Sprecher Schröder jedenfalls will ungern eine konkrete Angabe dazu machen, wann in Obrigheim das Ziel erreicht ist: „Da gibt es zu viele Unbekannte, vor allem die komplizierten Genehmigungsverfahren, um einen detaillierten Zeitplan zu erstellen.“ Vielleicht zwischen 2020 und 2025 – das wären eher 20 Jahre.

Aufgrund des Atomausstiegs stehen aber binnen elf Jahren 17 weitere Abwrackkandidaten im Land, die praktisch zeitgleich demontiert werden sollen. Der Chef des Atomforums rechnet dennoch nicht damit, dass es deshalb Verzögerungen gibt. Güldner: „Mehrere Firmen aus dem In- und Ausland, die auf Kerntechnik spezialisiert sind, haben diese Situation als Chance erkannt und versuchen, hier ins Geschäft zu kommen.“

Ein Beitrag von:

  • Ralf Nestler

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