Solaranlagen sollen die Stromnetze stabilisieren
Das Stromsystem der Zukunft funktioniert nicht mehr als Einbahnstraße, sondern vielmehr als Kreisverkehr. Da von einem sogenannten Gleichzeitigkeitseffekt ausgegangen werden muss, modellieren Forschende der Jacobs University Bremen nun das Verhalten der einzelnen Akteure im Stromnetz – mit dem Ziel, die Risiken für kritische Situationen zu minimieren und das Netz zu stabilisieren.
Unser Energiesystem verändert sich. Haben früher ausschließlich große Kraftwerke den Strom ins Netz gespeist und Verbraucherinnen und Verbraucher auf der anderen Seite ihn genutzt, entwickeln sich letztere immer mehr zu sogenannten Prosumern. Das bedeutet: Menschen erzeugen Strom und nutzen ihn gleichzeitig. Betrachtet man allein die Zahl der Solaranlagen und Elektroautos, lässt sich die Dimension schnell erkennen. Aktuell liefern mehr als zwei Millionen Photovoltaikanlagen Strom ins deutsche Netz. Bis 2030 sollen auf deutschen Straßen 15 Millionen Elektroautos fahren. Einzeln für sich stellen sie kein großes Problem dar. Doch die Masse macht den Unterschied. Vor allem deshalb, weil die Verbraucher und Erzeuger erneuerbarer Energien sogenannte Gleichzeitigkeitseffekte auslösen. Und genau die wirken sich vermutlich deutlich auf die Sicherheit des Stromnetzes aus.
Unkontrolliertes Laden gefährdet das Stromnetz
Was steckt hinter den Gleichzeitigkeitseffekten? Ein Beispiel: An einem sonnigen Tag produzieren PV-Anlagen viel Strom. Gleichzeitig sinkt der Strompreis, da das Angebot steigt. Das macht es für E-Auto-Besitzer attraktiv, genau dann ihr Auto aufzuladen. Deshalb ist für die Zukunft geplant, dass auch kleine Anlagen gesteuert werden können, sobald es zu Engpässen im Stromnetz kommt. Mittels modernem Netzmanagement sollen solche Engpässe dann entweder dadurch abgeschwächt oder sogar komplett aufgelöst werden können. Diese Rolle übernahmen bisher die großen konventionellen Kraftwerke. Da Netze ziemlich sensible Gebilde sind, halten sie Veränderungen nur in sehr geringem Maße stand. „Die Möglichkeit kurzfristiger und durch Marktanreize synchronisierter Interaktionen im Stromnetz stellt die Netzbetreiber vor neue Herausforderungen und bedarf einer systematischen, simulationsbasierten Analyse“, erläutert Marius Buchmann, Projektleiter der Arbeitsgruppe „Bremen Energie Research“ an der Jacobs University.
Stabiles Stromnetz mit Solaranlagen, Wärmepumpen und E-Autos
Für ihr Forschungsvorhaben „Resilienz im digitalisierten Stromsystem: Marktregeln für den Umgang mit Gleichzeitigkeitseffekten in Systemdienstleistungsmärkten“ nehmen die Forschenden die Perspektive der Netzbetreiber ein. Sie modellieren dafür in einem digitalisierten und vernetzten Stromsystem verschiedene Szenarien und analysieren das Verhalten der einzelnen Akteure unter diesen sich verändernden Rahmenbedingungen. Wichtig ist ihnen dabei, dass PV-Anlagen oder Wärmepumpen die Stabilisierung der Netzspannung bei 50 Hertz künftig unterstützen. Am Ende steht immer die Frage: Wie wirkt sich das auf die Stabilität der Netze aus? Darüber hinaus wollen die Forschenden der Jacoby University unter der Leitung von Gert Brunekreeft, Professor für Energieökonomie, herausfinden, wie solche kritischen Situationen vermieden werden können.
Forschende am Institut für Informatik (OFFIS) führen die Modellergebnisse dann mit eigenen Modellierungen zusammen. „Wir kombinieren Verfahren der künstlichen Intelligenz, insbesondere aus dem Bereich der selbstlernenden Systeme, mit bewährten Simulationstechniken, um die Interaktion zwischen Prosumern, die am Markt agieren, und der elektrischen Infrastruktur simulativ abzubilden“, erklärt Astrid Nieße, Professorin für digitalisierte Energiesysteme an der Universität Oldenburg und wissenschaftliche Leiterin im OFFIS. Mit diesem Verfahren wollen die Forschenden es schaffen, dass die Marktteilnehmer eigenständig Gebotsstrategien lernen. Mit diesen soll es ihnen möglich sein, eine adaptive und damit realitätsnahe Reaktion der Prosumer auf Marktanreize zu untersuchen.
„Toolbox“ für ein stabiles Stromnetz
Die Forschenden haben es sich zum Ziel gesetzt, eine sogenannte „Toolbox“ zu entwickeln. Dieser Werkzeugkasten soll genau die Instrumente enthalten, mit denen die zentralen Akteure in der Lage sind, Auswirkungen neuer Regeln des Marktes auf das Akteursverhalten zu erkennen und zu bewerten. Denn dieses wirke sich automatisch auch auf die Resilienz des Stromsystems aus. Zum Einsatz bringen wollen die Forschenden auch eine Open-Source-Software, die im Rahmen des Forschungsvorhabens weiterentwickelt werden soll. Hinzu komme der entscheidende Wunsch nach einer umfassenden Nutzung und Bereitstellung von Open Data.
Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWi) fördert das Forschungsvorhaben mit insgesamt rund einer Million Euro über einen Zeitraum von drei Jahren.
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