Weltoffen heißt auf Westfälisch Klemmen-Valley
Jeder dritte Bürger im erwerbsfähigen Alter arbeitet bei Phoenix Contact – rein rechnerisch. Bekommt das Unternehmen einen Schnupfen, leidet die Stadt gleich unter schwerer Grippe, sagt man in Blomberg. Doch 2010 erfreut sich der Weltmarktführer für elektrische Verbindungstechnik bester Gesundheit. Das wichtigste Kapital des Klemmen-Herstellers kommt aus aller Welt: Fachkräfte.
Niederländische Nato-Soldaten haben die Tradition damals in die ostwestfälische Kleinstadt gebracht. 1996 wurde ihre Kaserne geschlossen. Von den bis zu 2000 Niederländern, die dort zwischenzeitlich lebten, sind fast 150 geblieben – und mit ihnen das niederländische Nikolausfest Sinterklaas. „Vielleicht hat dieses lange Miteinander der Kulturen dafür gesorgt, dass Blomberg ein wenig liberaler, weltoffener geworden ist“, meint Bürgermeister Klaus Geise.
Sinterklaas ist nicht der Einzige geblieben, den die Arbeit nach Blomberg geführt hat. Die anderen kommen in der Regel nicht aus der Geschenkebranche, sondern sind in der Mehrzahl handfeste Techniker oder Ingenieure. Ihr Ziel: ein Arbeitsplatz bei Phoenix Contact.
Mehr als 10 000 Menschen beschäftigt der Weltmarktführer für elektrische Verbindungs- und Interfacetechnik insgesamt, über 3500 allein im Stammwerk Blomberg. Das Unternehmen verfügt über 47 eigene Gesellschaften sowie rund 30 Vertretungen in Europa und Übersee täglich gehen Lieferungen von Blomberg aus in etwa 25 Länder dieser Erde.
Über 1 Mrd. € Umsatz wird Phoenix Contact im laufenden Jahr wieder erzielen, vielleicht sogar mehr als im bisherigen Rekordjahr 2008. Krise? War gestern. Genauer gesagt 2009, als die Anlageinvestitionen rund um den Globus einbrachen. Das hinterließ heftige Bremsspuren in der Bilanz.
Doch die Unternehmensführung hat die Krise mustergültig gemeistert: Dank Kurzarbeit konnte die Stammbelegschaft 2009 komplett gehalten werden. Auch das Management trat kürzer. Laut Unternehmenssprecherin Angela Josephs entsprach das ebenso dem Selbstverständnis der Firma wie die Maßgabe, Leiharbeitern bei gleicher Tätigkeit auch den gleichen Lohn wie den Festangestellten zu zahlen.
Den Titel „Top-Arbeitgeber für Ingenieure 2010“ hat das den Blombergern im Frühjahr auf der Hannover Messe eingebracht, wieder einmal. Anfang November gab es die nächste öffentliche Belobigung: Auf den „Fraunhofer Innovationsforen Leipzig“ wurde Phoenix Contact für sein betriebliches Gesundheitsmanagement ausgezeichnet. „Von Bewegungsprogrammen bis hin zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie werden die Bedürfnisse der Mitarbeiter innerhalb des Unternehmens berücksichtigt“, erklärte die Jury bei der Preisübergabe.
Vielleicht muss sich das Unternehmen so hübsch machen, um genügend Fachkräfte in die – Pardon – Provinz zu locken. Vielleicht nehmen Familienunternehmer wie der geschäftsführende Gesellschafter Klaus Eisert (Jahrgang 1934) aber auch einfach die soziale Verantwortung stärker an als angestellte Manager von Kapitalgesellschaften.
Was die Beweggründe auch sein mögen, der Besucher merkt schnell, dass der Mensch hier eine wichtige Rolle spielt. Zwischen den Produktionshallen werden die großzügigen Grünflächen von mehreren Arbeitern gepflegt. Teiche sind angelegt und Spazierwege. In der lichtdurchfluteten Kantine schweift der Blick über den Rand des frischen Salattellers durch die großen Fenster über die sanft gewellten Hügel und Täler des Lipperlandes.
„Klemmen-Valley“, sagt die Pressesprecherin etwas unvermittelt. „So nennt unser Geschäftsführer unsere Region.“ Denn auf engstem Raum sitzen hier gleich mehrere führende Hersteller von Steckverbindern für die Elektrotechnik. Phoenix Contact ist der größte, der wichtigste Konkurrent ist Weidmüller aus Detmold. Wago als Dritter im Bunde hat sein Stammwerk ein paar Kilometer weiter entfernt in Minden.
Klemmen. Reihenklemmen. Leiterplattenanschlusstechnik. Die Produktpalette klingt längst nicht so spannend wie die der großen Autokonzerne. Die Klemmen werden fast überall eingesetzt, wo Strom fließt: in den Schaltschränken chinesischer Kraftwerke, in Schweißrobotern brasilianischer Autowerke, in Überspannungsschutzgeräten für deutsche Sendemasten. Doch man sieht die Phoenix-Produkte im Alltag eben nicht.
Die Blomberger müssen im Wettbewerb um die besten Fachkräfte mit anderen Pfunden wuchern. Das innovative Klima im Betrieb sei so ein Pfund meint Angela Josephs. „Schließlich mussten wir uns gegen große Mitbewerber wie Siemens durchsetzen“, erklärt sie. Das gelang u. a. mit der Entwicklung eines eigenen Feldbussystems oder der drahtlosen Signalübertragung.
Die Internationalität des Geschäfts ist ein weiterer Pluspunkt: „Zwei Drittel unseres Umsatzes entstehen im Ausland. Wir fertigen u. a. in Brasilien, Indien oder Polen, entwickeln in China und den USA.“ Wie zum Beleg grüßt Josephs einen Chinesen, der gerade den Gang hinuntergeht.
Die Expansion im Ausland läuft seit Mitte der 1980er-Jahre sehr dynamisch. Und sie beschert auch im Inland weitere Arbeitsplätze. Zum Beispiel den von Matthias Strauß. Der 30-jährige Diplom-Ingenieur ist für die Fabrik- und Prozessplanung im Ausland zuständig, verhandelt Rahmenverträge mit Planungsbüros und kauft Bauleistungen für die Niederlassungen weltweit ein. „Die Wertschätzung, die den Mitarbeitern entgegengebracht wird, genieße ich sehr“, sagt der junge Blomberger.
Seine Karriere wirkt beispielhaft: Schulpraktikum in der 9. Klasse bei Phoenix Contact („Da durften wir richtig an die Maschinen ‚ran‘.“), betriebliche Ausbildung, Studium an der RWTH Aachen, zurück zu Phoenix Contact, wo er nebenbei an seinem Master-Abschluss an der FH Bielefeld arbeiten darf.
Ist er nicht doch neidisch auf die Kommilitonen, die bei Daimler oder Audi untergekommen sind? „Ehrlich gesagt: Ich habe mich nur bei Phoenix beworben. Okay, man sieht unsere Produkte nicht gleich. Aber man braucht sie, damit etwas funktioniert“, sagt Strauß. Und: Hier finde er eine komplette Industrielandschaft vor – von der Metallteilefertigung bis zur Logistik.
Die braucht Platz. Zum 1957 bezogenen Stammhaus am Flachsmarkt haben sich im Laufe der Jahre immer neue Produktionshallen gesellt. Dieses Jahr wurde die Halle Nr. 35 eingeweiht, das 34. Produktionsgebäude. Die Halle Nr. 13 gibt es nämlich nicht – so sind sie halt, die Naturwissenschaftler …
In der Halle 1 rauscht Granulat durch die Schlauchleitungen. Hier stehen 35 Maschinen für den Spritzguss. Das Grundprodukt, die Reihenklemme, wird hier gefertigt. Die Reihenklemme? „Wir produzieren hier mehrere Hundert Grundformen“, erläutert Josephs. Das gesamte Spektrum umfasst 53 000 Einzelartikel.
Unterwegs passiert der Besucher immer wieder Tafeln, die über Produktionsziele, Ergebnisse, Kennzahlen Auskunft geben. Einige Schritte weiter blinkt eine digitale Anzeige: die Stückzahl der pro Minute hergestellten Universalklemme UK5N, des Standardprodukts von Phoenix Contact. 150 000 Stück wirft die Anlage im Drei-Schicht-Betrieb täglich aus. Alles andere als Standard hingegen: Die hauseigene Entwicklungsabteilung beschäftigt 250 Ingenieure.
Szenenwechsel. Vom Standard verabschiedet sich die Delignit AG allmählich. Der letzte Vertreter der Blomberger Holzindustrie produziert Sperrholzplatten in Rumänien und Deutschland. Doch das Geschäft mit den einfachen Produkten lahmt.
Gerade hat das Traditionsunternehmen seine Mehrheit an der rumänischen Tochter verkauft. Nun will sich Delignit auf die anspruchsvollen Produkte fokussieren. „Buche ist eine der zähesten und festesten Holzarten. Sie wiegt bei gleicher Bemessung nur ein Zehntel von Baustahl, hat aber ein Drittel seiner Festigkeit“, heißt es in der Firmendarstellung. Durch thermische Behandlung entstehen hier hochabriebfeste Materialien, die u. a. in der Formel 1, in ICE-Triebwagen oder als durchschusshemmende Platten eingesetzt werden.
Rund 175 Mitarbeiter beschäftigt Delignit noch in Blomberg. „Die anderen Holz verarbeitenden Betriebe, also hauptsächlich Möbelhersteller, sind im Strukturwandel nach und nach verschwunden“, berichtet Bürgermeister Klaus Geise. Der mehrfache Strukturwandel hat Geld gekostet. Als die Nato-Kaserne 1962 eröffnet wurde, kamen viele Neubürger nach Blomberg, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gab es eine zweite Zuwanderungswelle, diesmal aus dem Osten Europas.
Kindergärten und Schulen mussten gebaut werden. Deshalb hat die Kommune trotz des großen Steuerzahlers Phoenix Contact immer noch Schulden. Und steht heute wieder vor strukturellen Veränderungen.
„Die Herausforderung heißt jetzt demografischer Wandel“, sagt Geise. Seit Jahren wandern mehr Bürger ab als neue hinzuziehen. Vor allem junge Menschen zieht es in die größeren Städte. Erstmals muss Geise die Schließung einer Grundschule verkünden. Es geht um Rückbau. „Das ist den Bürgern viel schwerer zu vermitteln als der Neubau von Einrichtungen“, so der Bürgermeister.
Doch er räumt ein, dass das Jammern auf hohem Niveau sei. Der Stadt gehe es insgesamt gut. Man hat Pläne. Die Innenstadt, der historische Kern und der Marktplatz sollen attraktiver werden. Der Besuch von Sinterklaas am ersten Advent ist ja nett. Aber lieber möchte man Menschen anziehen, die nicht nur einmal jährlich übers Wochenende in Blomberg bleiben …
MARTIN VOLMER
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