Diese Fassade steuert die Verschattung wie ein Kiefernzapfen
Was wäre, wenn ein Gebäude seine Verschattung ganz von selbst steuern könnte, ohne elektrische Energie oder komplexe mechanische Systeme? Ein Forschungsteam hat genau das erreicht – und setzt dabei auf ein natürliches, erneuerbares Material.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Stuttgart und Freiburg haben ein energieautarkes Fassadensystem entwickelt, das sich automatisch an wechselnde Wetterbedingungen anpasst und zur Reduzierung von Kohlenstoffemissionen und Energieverbrauch in Gebäuden beiträgt. Dabei nutzen sie biobasierte Zellulosematerialien und bioinspirierte 4D-Drucktechnologien, um adaptive Verschattungssysteme zu realisieren. Die Ergebnisse ihrer Forschung wurden in der Fachzeitschrift „Nature Communications“ veröffentlicht.
„Wetterreaktive, architektonische Fassadensysteme sind meist auf aufwendige technische Vorrichtungen angewiesen. Unsere Forschung untersucht, wie wir die Reaktionsfähigkeit des Materials selbst durch computerbasierte Planungsmethoden und additive Fertigung nutzbar machen können“, erklärt Professor Achim Menges, Leiter des Instituts für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung (ICD) und Sprecher des Exzellenzclusters Integratives Computerbasiertes Planen und Bauen für die Architektur (IntCDC) der Universität Stuttgart. „Wir haben ein Verschattungssystem entwickelt, das sich abhängig von den Wetterbedingungen selbstständig öffnet und schließt, ohne dass dafür jegliche Betriebsenergie oder mechatronische Elemente benötigt werden. Die Biomaterialstruktur selbst ist die Maschine.“
Inspiriert wurden die Forschenden von Kiefernzapfen, die sich durch Veränderungen von Luftfeuchtigkeit und Temperatur öffnen und schließen, ohne Energie zu verbrauchen. Das Team nutzte Standard-3D-Drucker, um die spezielle Zellstruktur von Pflanzen nachzubilden.
Hygromorphe Zellulose im 4D-Druck: Selbstadaptive Verschattung durch Feuchtigkeitsschwankungen
Zellulose, ein natürlicher und reichlich verfügbarer Rohstoff, zeigt in 4D-gedruckten Doppelschichten ein hygromorphes Verhalten, das pflanzliche Bewegungsmechanismen nachahmt. Zellulose quillt und schrumpft bei Feuchtigkeitsschwankungen – eine Eigenschaft, die als Hygromorphie bekannt ist. Diese Reaktion findet sich in der Natur, etwa beim Öffnen und Schließen von Kiefernzapfen oder den Blüten der Silberdistel. Das Forschungsteam nutzte diese Eigenschaft, indem es biobasierte Zellulosefasern speziell anfertigte und im 4D-Druckverfahren zu einer zweischichtigen Struktur formte.
Materialsysteme, die im 4D-Druckverfahren hergestellt werden, können ihre Form selbstständig an äußere Einflüsse anpassen. Für das „Solar Gate“ entwickelten die Forschenden eine computergestützte Methode, mit der ein Standard-3D-Drucker Zellulosematerialien so verarbeitet, dass sie sich selbstständig formen und zurückverformen können. Bei hoher Luftfeuchtigkeit nehmen die Materialien Feuchtigkeit auf, dehnen sich aus, und die gedruckten Elemente rollen sich ein und öffnen sich. Sinkt die Luftfeuchtigkeit, geben die Materialien die Feuchtigkeit ab, ziehen sich zusammen, und die Elemente flachen ab und schließen sich.
„Königsweg der Bionik“
Professor Thomas Speck, Leiter der Plant Biomechanics Group Freiburg und Sprecher des Exzellenzclusters „Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems“ (livMatS) der Universität Freiburg, bestätigte, dass das „Solar Gate“ von den hygroskopischen Bewegungen von Kiefernzapfenschuppen und den Hochblättern der Silberdistel inspiriert ist. Es sei gelungen, nicht nur die hohe Funktionalität und Robustheit dieser biologischen Vorbilder in ein bioinspiriertes Verschattungssystem zu übertragen, sondern auch die Ästhetik der pflanzlichen Bewegungen. Dies könne als „Königsweg der Bionik“ betrachtet werden, da alles, was an den biologischen Ideengebern faszinierend sei, auch im bioinspirierten architektonischen Produkt umgesetzt worden sei.
Das ‚Solar Gate‘ als nachhaltige Lösung für die Klimaregulierung von Gebäuden
Das Forschungsteam prüfte ein Jahr lang die Funktion und Haltbarkeit des bioinspirierten Verschattungssystems unter realen Wetterbedingungen. Anschließend wurde das „Solar Gate“ an der livMatS Biomimetic Shell installiert, einem Forschungsgebäude der Universität Freiburg, das vom Exzellenzcluster IntCDC und livMatS entwickelt wurde. Das System ist an einem südlich ausgerichteten Dachfenster angebracht und trägt zur Klimaregulierung des Gebäudes bei. Im Winter öffnen sich die Elemente, um Sonnenlicht hereinzulassen und den Innenraum natürlich zu erwärmen. Im Sommer schließen sie sich, um die Sonneneinstrahlung zu reduzieren. Diese Prozesse laufen ohne elektrische Energie ab und nutzen ausschließlich die täglichen und saisonalen Wetterveränderungen.
Das „Solar Gate“ bietet eine energieautarke und ressourcenschonende Alternative zu herkömmlichen Verschattungssystemen. Da der Energieverbrauch für Heizung, Kühlung und Lüftung in Gebäuden hoch ist und diese erheblich zu den globalen CO₂-Emissionen beitragen, sind Lösungen zur Senkung des Energiebedarfs besonders wichtig. Das System zeigt das Potenzial kostengünstiger Technologien wie des 3D-Drucks und verdeutlicht, wie Zellulose als nachhaltiges, erneuerbares Material zu umweltfreundlichen architektonischen Lösungen beitragen kann.
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