Jetzt spricht das Vieh!
Der Ingenieur Gerhard Jahns hat das erste Wörterbuch „Kuh-Deutsch“ entwickelt. Seine Software kann das Gebrüll von Wiederkäuern übersetzen. Bei hustenden Schweinen kann er mittels akustischer Verfahren sogar erkennen, ob eine Lungenkrankheit vorliegt und welcher Erreger dafür verantwortlich sein könnte. Dabei steckt die Forschung noch in den Kinderschuhen.
Bertha reckt den Hals und röhrt lautstark. Was als dumpfes Murren beginnt, wird innerhalb von Sekunden zum druckvollen Gebrüll. Hat die Schwarzbunte schmerzhafte Blähungen? Oder heißt sie Besucher in ihrem Stall willkommen? Versucht sie, lästige Schmeißfliegen zu vertreiben? Oder will sie den Bullen von der Nachbarwiese auf sich aufmerksam machen? Der Laie blickt ratlos in große, schwarze Kuhaugen.
„Sie hat einfach nur Hunger oder Durst“, ist Gerhard Jahns überzeugt. „Da gibt es keinen Zweifel. Das war leicht zu verstehen.“ Der Laie blickt wieder ratlos – diesmal in die blau-grauen Augen des habilitierten Maschinenbauers. Steht dort ein leibhaftiger Kuh-Flüsterer? Oder lebt der Wissenschaftler seit Jahren mit den Wiederkäuern auf der Wiese und kennt all ihre Eigenarten? Weder noch. Der Niedersachse vertraut bei der Übersetzung von Kuhlauten auf sein Laptop. Dort ist es installiert: das erste Wörterbuch „Kuh-Deutsch“.
Jahns ist es gewohnt, anfangs belächelt zu werden. Wer dem sachlichen Ingenieur aber länger zuhört, erkennt bald, dass es sich bei seiner Arbeit ganz sicher nicht um Spinnerei handelt. Seine Forschungen zur „Kuhstimmenerkennung“ begannen schon Mitte der 90er- Jahre am Institut für Biosystemtechnik der damaligen Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft (FAL). Ziel war es, einzelne Tiere auch innerhalb von großen Beständen optimal pflegen und ernähren zu können. Dabei ging es weniger darum, eine Beauty-Farm für Vierbeiner zu schaffen. „Hauptmotivation waren die Erhaltung und Verbesserung der Tiergesundheit und des Wohlbefindens als Voraussetzung für eine artgerechte und effiziente Tierhaltung auch im Sinne des Verbraucherschutzes und der Lebensmittelsicherheit“, so Jahns. „Außerdem ist es für Züchter wichtig zu wissen, wann die Tiere empfängnisbereit sind. Nur dann ist eine Besamung Erfolg versprechend.“
Um die Versorgung und die künstliche Befruchtung optimieren zu können, ist es nötig, jedes einzelne Tier zu überwachen. Dies geschieht derzeit mit technischen Mitteln, die nicht nur teuer sind, sondern auch das natürliche Verhalten der Tiere beeinflussen können. Sie arbeiten darüber hinaus absätzig, d.h. die Erfassung der Daten erfolgt also nur zu bestimmten Zeiten des Tages, etwa während des Melkens.
Jahns und sein Team machten sich deshalb auf die Suche nach einer Methode, mit der eine Herde rund um die Uhr und ohne äußerliche Einwirkungen überwacht werden kann. „Wir kamen irgendwann auf die Idee, die Natur für unsere Zwecke zu nutzen. Wir fragten uns: Was sagt denn das Tier selbst?“
Den Forschern kam dabei zu Gute, dass die Kuh ein Beutetier ist. Damit gehört sie zu den eher wortkargen Spezies. „Evolutionsbedingt äußern sie so gut wie keine Schmerzlaute“, so Jahns. „Sonst würde sie im Verletzungsfall nur weitere Jäger anlocken.“ Insgesamt sei die Natur sehr sparsam gewesen, als sie Rinder mit einem Wortschatz beschenkte. „Wir gehen heute davon aus, dass es kaum mehr als zehn verschiedene Kuhlaute gibt, die einen informativen Inhalt transportieren. Hunger und Durst sind übrigens nicht zu unterscheiden.“
Identifiziert wurden die wenigen Laute durch eine aufwendige Studie. „Wir haben einzelne, wirtschaftlich interessante Zustände herbeigeführt und die begleitenden Lautäußerungen gespeichert. So wurde z. B. ein einzelnes Tier nicht gefüttert, während alle anderen sich an frischem Gras labten. Als wir später mit einem Eimer Futter in den Stall gingen, machte das vernachlässigte Tier einen riesen Spektakel. Das haben wir aufgenommen. In einem anderen Experiment wurde mittels herkömmlicher Methoden, etwa der Temperaturmessung, untersucht, welche Tiere brünftig sind. Auch deren Laute haben wir aufgezeichnet.“
Insgesamt fragten die Forscher 688 Laute von 39 Kühen ab. Sie registrierten dabei auch Rufe von Tieren, die verspätet gemolken wurden, unter krankhaftem Husten litten oder ihr Kalb bzw. ihre Mutter riefen. Mit diesen Daten wurde der Computer gefüttert (s. Kasten).
In abschließenden Testläufen erwies sich das „Kuh-Deutsch“-Wörterbuch als zuverlässig. Hungrige bzw. durstige Tiere wurden zu 100 % identifiziert, brünftige Artgenossen zu 88 %. Die größten Schwierigkeiten hatte die Übersetzungshilfe bei der Erkennung eines übervollen Euters. Die entsprechenden Rufe wurden „nur“ zu 74 % richtig erkannt. Jahns ist sicher, dass sich die Fehlerquoten durch eine Erweiterung der Datenbasis noch reduzieren lassen.
Zusätzlich müssen noch technische Herausforderungen bewältigt werden. So muss ein für die Praxis geeignetes System die vielfältigen Nebengeräusche in einem Stall ignorieren können – ohne die relevanten Rufe zu überhören. Außerdem muss das sogenannte Word-Spotting verbessert werden. Das System sollte also erkennen können, welche Äußerungen von der jeweils zu beobachtenden Kuh stammt.
Viele Lösungen, die für die Spracherkennung beim Menschen entwickelt wurden, sind dabei überaus hilfreich. Einige Ansätze lassen sich aber nicht übertragen. So macht es im Kuhstall wenig Sinn, einen Ruf aufgrund des Satzzusammenhangs identifizieren zu wollen.
Einfachen Übersetzungssystemen, die etwa allein auf die Rufhäufigkeit oder -intensität abstellen, traut Jahns nicht. „Sicher brüllt eine Kuh öfter, wenn sie Hunger hat. Sie brüllt aber vielleicht auch nur deshalb, weil sie ein extrovertierter Typ ist. Auch unter Vierbeinern gibt es Schwätzer“, scherzt der Ingenieur.
Bei der Analyse von Schweinelauten ist die Wissenschaft schon einen Schritt weiter. Eine Bachelorarbeit an der TU-Braunschweig widmete sich jüngst dem Husten des Borstenviehs. Hintergrund: Lungenerkrankungen führen allein in deutschen Mastbetrieben jährlich zu Schäden in Höhe von mehreren Millionen Euro. Abhilfe schaffen könnte das frühzeitige Erkennung der Krankheit und eine gezielte Behandlung der betroffenen Tiere.
Im Rahmen der Arbeit gelang es, allein aufgrund einer akustischen Analyse verschiedene Krankheitserreger zu identifizieren. „Davon waren wir selbst überrascht“, so der Forscher. „Eigentlich haben wir nur versucht, einen krankhaften Husten zu unterscheiden von dem Husten gesunder Tiere, der durch äußere Einflüsse wie etwa Staub verursacht wurde. Am Ende konnten wir aber sogar eindeutig benennen, welche Tiere an Pasteurellen und welche an Actinobazillen erkrankt waren.“
Künftig will Jahns sein Ohr auch in Bienenstöcke halten – jedenfalls im übertragenen Sinne. Dabei interessieren ihn weniger die summenden Insekten als vielmehr etwaige Schädlinge. Vor allem hat er es auf den heimtückischen Beutenkäfer abgesehen. Der Parasit hat in den USA schon unzählige Bienenvölker ausgelöscht. In Europa konnte er bisher weitgehend in Schach gehalten werden. Das wird in Zukunft nur gelingen, wenn er früh entdeckt und ggf. sofort beseitigt wird. Das Problem: Er ist kaum sichtbar – schließlich verkriecht er sich in den Tiefen der Bienenwaben. Verraten sollen ihn – so Jahns Plan – seine Fressgeräusche.
„Das Interesse an der Tierstimmenerkennung wird weiter wachsen“, ist Jahns überzeugt. Die denkbaren Perspektiven sind aber auch faszinierend – etwa für Haustierhalter. Welches Herrchen würde nicht gerne genau wissen, wann sein Waldi dringend Gassi gehen möchte? S. ASCHE
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