Marshall McLuhan: Ausblick auf das globale Dorf
Marshall McLuhan hat schon in den 60er-Jahren die Auswirkungen neuer Medien beschrieben. Am 21. Juli wäre der Wissenschaftler 100 Jahre alt geworden.
So vertraut uns das World Wide Web heute erscheint, so jung ist es: Das überall per Webbrowser verfügbare Internet ist in dieser Form gerade mal zwei Jahrzehnte alt. Doch selten hat eine Technologie, die nach menschlichen Maßstäben gerade die Volljährigkeit erreicht hat, sich so rasch und nachhaltig bis in die letzten Winkel dieser Erde und bis in die letzten Winkel unseres Alltags ausgebreitet.
Was für eine Revolution das Internet für die Menschheit bedeutet und wie stark es in die menschliche Kultur und Gesellschaft eingreift, das hat bereits Mitte der 1960er-Jahre der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan vorhergesehen. Zu einem Zeitpunkt also, als der Personal Computer ebenso noch Science-Fiction war wie die Datenstaubsauger Facebook oder Google, die man damals eher mit dem „Großen Bruder“ aus dem Orwell-Roman „1984“ in Verbindung gebracht hätte. Am 21. Juli jährt sich nun der Geburtstag von Marshall McLuhan zum 100. Mal.
Marshall McLuhan beschrieb bereits 1964 die sozialen Auswirkungen des Internets
Die äußere Form des Mediums als elektronisches Gehirn, in dem alle bisherigen Medien aufgehen würden, hat McLuhan – damals Direktor des Centre for Culture and Technology an der Universität Toronto – in seiner Schrift „Understanding Media“ (1964) glasklar formuliert. Was aber noch mehr verblüfft, ist McLuhans klarsichtige Prognose über die Auswirkungen des neues Mediums. Die Welt, so McLuhans viel zitierte Formel, würde sich zu einem „globalen Dorf“ entwickeln, in dem die Menschen über kulturelle und geografische Grenzen hinweg ohne Rücksicht auf Zeit und Raum miteinander kommunizieren würden.
Dieser positiven Perspektive setzt McLuhan eine kulturpessimistische gegenüber: Die gesellschaftlichen Bindekräfte lösten sich nach und nach auf, wenn die Menschen ihre sozialen Kontakte nicht mehr in der unmittelbaren Lebensumgebung, sondern je nach Interesse, Religion, politischer Anschauung oder auch nur für ein punktuelles Thema weltweit suchten. McLuhan sah hierin die Tendenz zu einer Rückentwicklung der Menschheit in Richtung der Stammesgesellschaften.
McLuhans Vision, auf heute projiziert: Statt aufgeklärter, partizipierender Bürger eines Gemeinwesens zu sein, wäre der Mensch des Internet-Zeitalters irgendwann nur noch Mitglied eines Modelleisenbahn-Forums, eines Fußball-Fanklubs und einer Twitter-Community, in der sich Hunderte oder Tausende „Follower“ um einige Häuptlinge scharen.
Durch die Achtundsechziger wurde McLuhan zum Kultautor
Diese Zusammenhänge zwischen neuer Technik und neuen Medien auf der einen und Gesellschaft, Kultur und Mentalität auf der anderen Seite hat McLuhan in seinen Arbeiten präzise und erhellend analysiert. In der technikbegeisterten Zeit vor 1968 stieß er zunächst auf wenig Resonanz. Im Zuge der Achtundsechziger wurde McLuhan aber zum Kultautor, auch wenn viele ihn womöglich nicht richtig verstanden haben, wie der kanadische Schriftsteller Douglas Coupland in seiner jüngst erschienenen McLuhan-Biografie aufzeigt.
McLuhans Texte seien ein Gestrüpp aus genialen und banalen Beobachtungen, Rückschlüssen und Geistesblitzen, wie Coupland schreibt. Die McLuhan-Formeln „Das Medium ist die Botschaft“ und das „globale Dorf“ seien zwar in das allgemeine Verständnis eingegangen, dabei häufig aber verkürzt oder sogar falsch verstanden worden.
Coupland will in seiner Biografie aber nicht eventuelle Missverständnisse durch ein genaueres Verständnis der Medientheorie McLuhans korrigieren. Stattdessen sucht er in McLuhans Leben und dessen spezieller physischen und mentalen Disposition Erklärungen für die Frage, wie ein frommer katholischer Konvertit aus der kanadischen Wissenschaftsprovinz zum Stammvater einer Theorie des Netzzeitalters werden konnte.
McLuhan nahm heutige Erkenntnisse der Hirnforschung voraus
Wie Coupland erklärt, litt McLuhan zeitlebens an einer Überversorgung des Gehirns mit Blut. Eine angeborene Anomalie des Arterienaufbaus verursachte immer wieder kleinere Schlaganfälle und Aussetzer, aber offensichtlich auch ein assoziatives Denkvermögen, das ebenso geniale wie autistische Züge trug. 1979, ein Jahr vor seinem Tod am 31. Dezember 1980 mit 69 Jahren, verlor McLuhan schließlich nach einem weiteren, besonders heftigen Schlaganfall sein Sprechvermögen.
Im menschlichen Gehirn selbst sah McLuhan einen Schlüssel zum Verständnis der tiefer liegenden Auswirkungen, die neue Medien haben. Ohne die Erkenntnisse der zeitgenössischen Neurowissenschaften zur Hand zu haben, hatte McLuhan erkannt, dass das menschliche Gehirn enorm wandelbar und anpassungsfähig war. Verschiedene Medien würden verschiedene Sphären des Gehirns ansprechen und fördern, während andere verkümmerten. Im Zeitalter des Fernsehens würde die visuelle Sphäre dramatisch überbetont werden, so McLuhan. Eine Unterbewertung etwa von akustischen Signalen in der Wahrnehmung der Umwelt sei eine der vielen Folgen.
McLuhans Denken bietet noch heute viele Anregungen – so unsystematisch, „wild“ es daherkommt. Es hat eine gründlichere Auseinandersetzung verdient als die, die ihm Douglas Coupland angedeihen lässt. Seine Biografie ist eine krude, flapsige, aber auch anregende Mixtur aus Biografie, Essay und Wortspielerei.
D. Coupland: Marshall McLuhan. Tropen Verlag, Stuttgart 2011, 222 S., 18,95 €
Ein Beitrag von: