Wie eine schallende Ohrfeige zum Karriere-Turbo wurde
Seine Karriere-Serie in den VDI nachrichten läuft länger als die TV-Serie Lindenstraße. Seit 32 Jahren beantwortet Heiko Mell Fragen von Ingenieuren. Seine Kolumne hat Kultstatus und vielen Ingenieuren geholfen. Dafür hat Mell am heutigen Freitag das Bundesverdienstkreuz am Bande erhalten. Wer ist Heiko Mell? Eine Annäherung an einen streitbaren Konservativen.
Eine Schule in Stendal, Sommer 1955. In Staatsbürgerkunde sollen die Schüler der 7. Klasse einen Aufsatz über „das kriegstreibende System in Westdeutschland“ schreiben. Bestens vertraut mit den Propagandafloskeln der SED gibt sich der junge Heiko Mell größte Mühe, die Parteiideologen links zu überholen: „Adenauer, dieses Subjekt in den Händen der Imperialisten und Kapitalisten, wagt es,…“
In diesem Stil geht es drei Seiten weiter. Der Lehrer merkt, dass ihn da jemand auf den Arm nimmt. Aber wie soll er es ihm beweisen? So gibt er dem begabten Satiriker eine Eins für die Arbeit – und eine schallende Ohrfeige vor der gesamten Klasse. Die Strafe nahm Heiko als Ansporn und Bestätigung. Er hatte gemerkt, wie viel Spaß es ihm macht, zu schreiben, pointiert zu formulieren – der Autor Mell war geboren.
Heiko Mells Markenzeichen ist die klare Kante
Klare Kante ist bis heute das Markenzeichen seiner wöchentlichen Karrierekolumne in den VDI nachrichten. „Zum Schreiben bin ich gekommen, weil ich mich geärgert habe. Die Leute waren schlecht über die Regeln des Systems informiert, gaben unvollkommene Bewerbungen ab und hatten Schwierigkeiten mit ihren Lebensläufen.“
Mit dem Sendungsbewusstsein, das ihm eigen ist, startete Mell eine Aufklärungskampagne. Schon in seinen ersten Artikeln nahm der Berater kein Blatt vor den Mund. Er schreibt aus dem Blickwinkel derer, die entscheiden. Für alle, über die entschieden wird. Was die Mächtigen (vermeintlich oder tatsächlich) denken, breitet der Berater vor seinen Lesern aus. Die Spielregeln des „Systems“ – eine von Mells Lieblingsvokabeln – sind nicht immer fair. Doch wer sie ignoriert, hat schlechte Karten.
Mell schreibt unverblümt, bisweilen verletzend direkt. Sein schneidiger Stil, seine konservative, arbeitgeberfreundliche Grundhaltung passt nicht jedem. Er hat viele Bewunderer und nicht wenige Verächter. Doch selbst manche Kritiker stürzen sich freitags auf den „neuen Mell – und sei es nur um sich zu ärgern.
Work-Life-Balance ist für Mell vor allem ein Modewort
Elternzeit und Frauenquote lehnt der Konservative ab. Der Staat solle Firmen nicht noch stärker belasten. Beim Modewort Work-Life-Balance dreht sich ihm der Magen um. „Was für ein Quatsch!“, entfährt es ihm. „Als wären Work und Life Gegensätze, die man ausgleichen müsste. In Wirklichkeit ist Arbeit doch ein wichtiger Teil des Lebens, der Freude macht und Sinn stiftet.“
Doch der Karriere-Coach ist kein kaltschnäuziger Hardliner. Vor Jahren schüttet ihm ein Schwuler sein Herz aus, bittet um Rat, ob er sich outen soll. Die Antwort: „Trotz aller öffentlichen Paraden und fortschrittlichen Gesetze stecken in weiten Teilen der Bevölkerung noch immer dumpfe Vorurteile gegen homosexuelle Menschen. So mutig Betroffene sind, die sich offen zu ihrer Veranlagung bekennen, so sehr müssen sie dann doch damit rechnen, sich Nachteile einzuhandeln.“ – Mell, der Einfühlsame.
Von Pommern ins Rheinland
Sein Leben ist die Geschichte eines Aufsteigers: vom bemitleideten Zonenkind zum erfolgreichen Unternehmer und Kultautor. Biografie im Zeitraffer: Geboren 1943 im pommerschen Kolmar, zwei Jahre später flieht die Familie in die Altmark. Der Vater stirbt im Krieg, 1957 auch die Mutter. Die Großmutter, die im Westen als Sozialrentnerin lebt, über- nimmt die Vormundschaft, holt den Jungen nach Meckenheim, nahe Bonn.
Mittlere Reife, zweijähriges Praktikum im Maschinenbau, Besuch der Ingenieurschule. Nach Abschluss als Wirtschaftsingenieur fünf Jahre bei Klöckner Humboldt Deutz, zuletzt als Leiter Grundsatzfragen des Personalwesens. Als sich sein Chef als Personalberater selbstständig macht, steigt der 26-Jährige in dessen Firma ein.
Mell wollte eigentlich ein „genialer Konstrukteur“ werden
Dabei hatte Mell eigentlich „ein genialer Konstrukteur werden wollen, der irgendwas ganz Tolles erfindet“. Doch daraus wurde nichts. „Als in der Ingenieurschule die ersten technischen Zeichnungen an die Wand kamen, konnte ich sie nicht lesen. Da wurde die Vorderansicht einer komplizierten Maschine gezeigt, die ich eben noch in der Aufsicht gesehen hatte, und ich suchte verzweifelt nach Welle und Träger.“
Eine schreckliche Erfahrung für Mell. Dass es ihm an räumlichen Vorstellungsvermögen mangelt, sieht er rückblickend als erste große „Wissensniederlage“ seines Lebens. Seiner Karriere schadete sie nicht. Mell reüssierte als selbstständiger Personalberater, wurde Teilhaber in der Firma seines Chefs, später Alleininhaber. Bis heute ist er geschäftsführender Gesellschafter der Heiko Mell & Co GmbH in Rösrath. Seinem Partner Ralf Neier gehört inzwischen die Hälfte des Unternehmens.
Heiko Mell schreibt alle seine Kolumnen mit der Hand
Ans Aufhören denkt der 73-Jährige nicht. Nach wie vor berät er Unternehmen, coacht Bewerber, hält Vorträge und Vorlesungen – etwa an der Universität Magdeburg, die ihm 2003 die Ehrendoktorwürde verlieh.
Natürlich wird er auch seine Karriereberatung in den VDI nachrichten fortsetzen. Das Leserinteresse ist riesig. Nur etwa jeder fünfte Fragesteller schafft es in Mells Rubrik. Der Karriereexperte liest alle Fragen, wählt die spannendsten, prägnantesten Fälle aus und beantwortet sie per Hand.
Danach tritt Ursula Bornmann in Aktion. Die Sekretärin tippt den Text ab und sendet ihn an die Redaktion. Vom Eingang der Frage bis zur Veröffentlichung vergehen vier bis sechs Wochen. Wenn’s pressiert, schickt Mell seine Antwort deshalb vorab an den Einsender.
Seine Kolumnen bedienen auch das Interesse des Voyeurs
Dass sein Karriere-Rat seit über 30 Jahren gelesen wird, führt Mell auch auf den „Voyeur-Effekt“ zurück. „Der Mensch ist halt neugierig, was andere Leute so für Probleme haben.“ Hinzu kommt seine Kunst, Informatives unterhaltsam zu verpacken.
Stolz ist Mell auf seine intakte Familie: Ehefrau, zwei erwachsene Jungen, Enkelkinder. Lebensmittelpunkt ist das eigene Haus, der Garten, ein Teich mit Kois und Stören, dem er viele Stunden seiner Freizeit widmet. Rastlos improvisiert der Dr. Ing h.c. mit Schläuchen und Filtern. „Privat bin ich ein brasselnder Heimwerker. Ich leg einfach los und probier was aus. Manchmal denk ich, vielleicht doch eine Zeichnung machen? Aber die könnte ich dann sicher nicht lesen…“
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