Prothesen bei Paralympics 2012 31.08.2012, 11:00 Uhr

Auf Otto-Bock-Federn Richtung Gold

Bei den Paralympischen Spielen, die derzeit in London stattfinden, entscheidet auch die Technik über Gold und Silber. Als Weltmarktführer unter den Prothesenherstellern hat sich das Duderstädter Unternehmen Otto Bock behauptet. Hier arbeiten Ingenieure wie Maximilian Segl eng mit Technikern zusammen, um Lauffedern für den Sprung aufs Siegertreppchen einen Tick stabiler und schneller zu machen.

 „Da kamen bei Nacht, ehe man’s gedacht, die Männlein und schwärmten, und klappten und lärmten, und rupften und zupften, und hüpften und trabten, und putzten und schabten…und eh ein Faulpelz noch erwacht…war all sein Tagewerk…bereits gemacht!“

Ähnlich wie die „Cöllner“ Heinzelmännchen scheuen auch die Otto-Bock-Techniker nicht die Nacht, wenn es ums Zupfen und Rupfen, ums Schwärmen und Lärmen geht. Zumindest nicht in diesen Tagen. 78 Techniker des Duderstädter Weltmarktführers für Beinprothesen sind in London, um in einer eigens errichteten Werkstatt Behindertensportlern bei den Paralympischen Spielen mit fachmännischem Rat und tatkräftiger Hilfe zur Seite zu stehen. Bei Tag und bei Nacht. „Wir gehen von 2000 Reparaturaufträgen und rund 10 000 Arbeitsstunden aus“, sagt Karsten Ley, Leiter Unternehmenskommunikation bei Otto Bock.

Wie den Heinzelmännchen ist auch den Otto-Bock-Technikern das hektische Frickeln alles andere als ein Graus. Ley: „Unsere Techniker haben sich auf London gefreut.“ Zwei Wochen lang stellen sich Herausforderungen, die spontane Lösungen und schnelles Handeln verlangen. Da sind Tüftler gefordert: Köpfe zusammenstecken, schweißen, bohren, neu bauen – auch auf die Gefahr hin, wieder zum Ausgangspunkt, dem Köpfezusammenstecken, zurückzukehren. „Das ist für die Techniker ein wahnsinniger Zugewinn. Eine bessere und praxisnähere Intensivweiterbildung kann man sich kaum vorstellen.“

Otto-Bock-Techniker kümmern sich auch um Sportler mit fremden Prothesen

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Im Gegensatz zu den anderen Prothesenherstellern, die in London mit ihren Service-Abteilungen vertreten sind, weise man in der Otto-Bock-Werkstatt niemanden zurück, auch Sportler mit fremden Prothesen nicht, betont Karsten Ley. So wurde bei den vergangenen Paralympics in Peking einem mongolischen Bogenschützen geholfen, dessen in Teilstücken selbst gebastelte Beinprothese nicht wettbewerbstauglich war. Die Otto-Bock-Techniker fertigten eine neue an – und Baatarjav Dambadondog ließ sich einen Tag später als Olympiasieger und mongolischer Nationalheld feiern.

Die Maximierung des Gewinns ist in London vordergründig nicht von Belang, sondern maximale Unterstützung, so das Credo des Otto-Bock-Teams. „Hier in Duderstadt fertigen wir rund 150 Karbon-Sprintfedern jährlich, aber 150 000 Füße für den alltäglichen Gebrauch“, unterstreicht Karsten Ley die – auf den ersten Blick – wirtschaftlich vergleichsweise geringe Bedeutung der Sportprothesenproduktion für das niedersächsische Familienunternehmen. „Behindertensport ist für uns ein Mittel, um Leute mit Behinderung in der Gesellschaft zu integrieren. Wir wollen Behinderten ihre Mobilität zurückgeben, sie sollen sich nicht zu verstecken brauchen.“ Dazu sind die Paralympics eine ideale Bühne. Und daher sind die Spiele mit ihrem wachsenden öffentlichen Interesse auch fürs Otto-Bock-Image und letztlich für die Firmenkasse nicht zu unterschätzen.

Improvisationskünste unter sportlichem Wettbewerbsdruck, wie sie die Techniker in London abrufen müssen, werden von den Otto-Bock-Ingenieuren nur selten abverlangt. Ihre Leistungen wirken langfristiger, sind deshalb aber nicht weniger eindrucksvoll. Und dem Wettbewerbsgedanken unterliegen die Ingenieure der Otto Bock HealthCare GmbH auch.

Otto-Bock-Ingenieure verfeinern Prothesen-Systeme

„Wir sind ein Unternehmen, das davon lebt, Technik in den Markt zu bringen. Grundlagenforschung hat einen Vorlauf von zehn bis 15 Jahren, das würde für uns wirtschaftlich schwierig“, sagt Ley. Deshalb überlässt man sie dankend anderen. Die Otto-Bock-Entwicklungsingenieure konzentrieren sich auf die Verfeinerung bereits bestehender Systeme. Wer könnte dafür besser Modell stehen als Mitarbeiter mit körperlicher Beeinträchtigung? Denn auch die gibt es in Duderstadt. Sie wissen, wo es zwickt und wo der Druck auf den Stumpf Schmerzen hervorruft.

Zurzeit stellt sich den Ingenieuren die Herausforderung, wie bei Handprothesen die Verbindung zwischen Armstumpf und Prothese über Software und unter der Haut störungsfrei so gesteuert werden kann, dass die Hand hochsensible Funktionen bewältigen kann.

Das alles muss möglichst geräuschlos, ohne Verzögerung und mit größter Sicherheit funktionieren. Karsten Ley: „Deshalb ist für uns vor allem die Mechatronik interessant: Mechanik verbunden mit Steuerungselektronik.“ Experten auf diesem Gebiet werden gesucht. Aktuell arbeiten knapp 5000 Mitarbeiter für Otto Bock, 2020 sollen es rund 9000 sein.

Und die blieben dann auch dem Unternehmen treu, meint Karsten Ley. Duderstadt sei zwar nicht München, aber das weltweit umspannende Firmennetzwerk mit 46 Standorten verlange Auslandseinsätze in Salt Lake City, Wien oder Beijing. „Wir bieten unseren Mitarbeitern zudem umfangreiche Trainingsprogramme, von Fremdsprachen bis zur Weiterbildung in einzelnen Technikbereichen.“

Bei einem Automobilbauer sei man einer von vielen, zählt Ley weitere Vorzüge auf. „Hier sind Ingenieure in einem Projekt von A bis Z beteiligt, von der Idee bis zur Markteinführung. Und wir sind näher am Menschen als fast alle anderen Branchen. Auf den zweiten Blick sind wir ein sehr attraktiver Arbeitgeber.“

Das findet auch Maximilian Segl. Ansonsten wäre der Tiroler nicht seit 25 Jahren in Duderstadt. Die Hauptaufgabe des Ingenieurs ist die Weiterentwicklung von Faserverbundstoffen. „Den Bereich Karbonproduktion habe ich hier mehr oder weniger aufgebaut.“

Von Segls Arbeit, der Feinjustierung und Stabilisierung der Sportfedern, profitieren insbesondere die Sprinter. Kann eine Feder denn auch brechen? „Ja, das passiert schon mal. Dann aber meist im Training, denn im Rennen tragen die Läufer spezielle Federn, die sie nur für das Rennen nutzen.“ Daher sei die Dauerfestigkeit der Faserverbunde die größte Herausforderung für Segl und sein Team. „Was die Leistung der Materialien angeht, sind wir absolut grenzwertig unterwegs. Ich befasse mich seit fast 35 Jahren mit Faserverbundstoffen. Es ist spannend, dass bei diesen Materialien immer wieder Dinge auftauchen, die man nicht bedacht oder noch nicht erlebt hat. Das Unberechenbare ist das, was Spaß macht.“

Was sich verändert habe, so der Entwicklungsingenieur, sei das Arbeitsumfeld. Heute unterliege jeder Prozess strenger wirtschaftlicher Kontrolle. „Früher konnten wir freier arbeiten. Ich brauchte mal eine Presse für 100 000 DM. ,Die bezahlen wir aus der Portokasse“, hieß es damals. Wenn ich heute eine Maschine bestelle, durchläuft das viele Kontrollen und Geschäftsbereiche. Für eine Idee muss ich Kosten und Gewinnerwartung mitliefern.“

Entwicklungsingenieur Ley: Keine Prothese ersetzt ein gesundes Bein

Wer bei Otto Bock zupft und rupft, schwärmt und lärmt, wird sich von dem Gedanken verabschieden müssen, Extremitäten 1:1 zu erneuern – auch wenn der lebende Körper das anzustrebende Ideal bleibt. Ley: „Keine Prothese ist so gut, dass sie ein gesundes Bein ersetzt.“

Die Technik ist aber auch hier zu Erstaunlichem in der Lage. In der höchsten Sprintphase müsse er 1 t an Kraft in die Feder geben, sagt Sprinter und Paralympics-Teilnehmer David Behre. „Das muss die Muskulatur erst einmal abfangen können. Aber mithilfe der Technik sind wir in 20 Jahren auf 400 m möglicherweise schneller als Nichtbehinderte.“

Ein Beitrag von:

  • Wolfgang Schmitz

    Wolfgang Schmitz

    Redakteur VDI nachrichten
    Fachthemen: Bildung, Karriere, Management, Gesellschaft

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