Vierte Welle 15.09.2021, 10:25 Uhr

Corona-Zahlen sinken: Doch ein Rechenfehler könnte der Grund sein

Die Corona-Inzidenz sinkt, auch die Hospitalisierungsrate stagniert: Ist die vierte Welle vorbei? Experten sind skeptisch – auch, weil das RKI einen massiven Rechenfehler gemacht haben könnte.

Die Hospitalisierungsrate wird ausschlaggebend für Corona-Schutzmaßnahmen sein. Nur: Die Zahlen des RKI spiegeln die tatsächliche Situation in den Krankenhäusern womöglich nicht korrekt wider. Foto: Panthermedia.net

Die Hospitalisierungsrate wird ausschlaggebend für Corona-Schutzmaßnahmen sein. Nur: Die Zahlen des RKI spiegeln die tatsächliche Situation in den Krankenhäusern womöglich nicht korrekt wider.

Foto: Panthermedia.net

Auf dem Papier sieht es gut aus: Die Entwicklung der Corona-Infektionszahlen stagniert und sinken sogar leicht. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag am Mittwoch (15. September) bei 77,9, eine Woche zuvor lag die Inzidenz bei 82,7.

Und auch eine andere Zahl entwickelt sich positiv. Schon vor über einem Jahr hat Intensivmediziner Christian Karagiannidis im Gespräch mit ingenieur.de gefordert, weniger auf die Inzidenz, als vielmehr auf die Belastung der Kliniken zu schauen: „Das Entscheidende ist die Belastung des Gesundheitswesens. Und die Belastung entsteht in erster Linie durch Patienten, die auf der Intensivstation landen. An der Zahl der Intensivpatienten kann man messen, wie viel wir wirklich schaffen können und wann es kritisch wird.“

Corona: Rechenfehler bei Hospitalisierungsrate des RKI

Tatsächlich scheint auch die Zahl der in Kliniken aufgenommenen Corona-Patienten sehr stabil zu sein. War es das nun mit der vierten Welle?

Die Experten-Meinungen dazu sind unterschiedlich. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach etwa spricht bei Twitter von einem „schwierigen November“. Mindestens 20% der Bevölkerung müssten noch geimpft werden, bis wir „zur Normalität“ zurückkehren könnten, schreibt Lauterbach.

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Er merkt zudem an, dass die Hospitalisierungsrate, die künftig neben der Corona-Inzidenz hauptausschlaggebend bei Entscheidungen zu  Corona-Schutzmaßnahmen sein soll, falsche Tendenzen anzeige:

„Die so enorm wichtige Hospitalisierungsrate wird systematisch durch Rechenfehler zu niedrig berechnet und meldet immer für die letzten Tage einen relativen Rückgang aufgrund eines Datenfehlers. Problem ist seit Wochen bekannt“, so Lauterbach via Twitter.

Tatsächlich dürften die Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) nach Einschätzung von Experten die tatsächliche Situation in den Krankenhäusern nur unzureichend widerspiegeln. Das Problem: Für die Berechnung der Hospitalisierungsrate stützt sich das RKI nur auf einen Teil der Patientenzahl. Denn das Institut sortiert die gemeldeten Einweisungen nach dem Datum des ersten positiven Corona-Tests. Dieses Datum kann aber Tage bis Wochen vor der Klinik-Einweisung liegen, weil bei weitem nicht jede Patientin oder jeder Patient direkt nach der Diagnose ins Krankenhaus muss. Die Werte sind entsprechend verzerrt – ähnlich einer nachgehenden Uhr.

Corona-Ansteckung in einem Land mit hohen Inzidenzen wahrscheinlicher als zuhause

Der Saarbrücker Experten für Corona-Prognosen Thorsten Lehr hat eine weitere Erklärung für die aktuelle Entwicklung der Zahlen. Sie beruh auf mehreren Effekten: So ebbe die Zahl der Reiserückkehrer langsam ab – und damit auch die eingeschleppter Corona-Infektionen.  Zudem seien in vielen Bundesländern nach den Sommerferien die Infektionszahlen bei Schülern zunächst explosionsartig angestiegen. „Dieser Anstieg ist durch die Durchführungen von Tests in der Schule und dem Entdecken von in die Schule getragenen Infektionen zu erklären und nicht durch unkontrollierte Infektionen in der Schule“, so Lehr. Durch das kontinuierliche Testen und Quarantänemaßnahmen bei Kontaktpersonen komme es ein bis zwei Wochen nach dem Schulstart jetzt zu einer Stagnation oder Abnahme der Corona-Inzidenzwerte bei Kindern und Jugendlichen. Es kehre „eine gewisse Normalität ein“, so der Experte.

Dritte Corona-Impfung: Zum Teil stärkere Nebenwirkungen bei Auffrischung

Den Zusammenhang mit den Reiserückkehrern begründet Mobilitätsforscher Kai Nagel zunächst damit, dass eine Ansteckung mit Corona in einem Zielland mit höheren Inzidenzen natürlich wahrscheinlicher sei als zuhause. Außerdem würden Reiserückkehrer aber auch systematischer getestet, sodass vermutlich auch mehr Fälle entdeckt würden.

„Von einem Ausbremsen der vierten Welle zu sprechen, ist sicher zu früh“

Viola Priesemann, Leiterin einer Forschungsgruppe am Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, sieht außerdem stagnierende Zahlen von Neuinfektionen in den Nachbarländern als Grund – wegen Reisender und auch Grenzpendler sei es normal, dass sich die Inzidenzen in Nachbarländern oft anglichen.

Der Epidemiologe Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie warnt allerdings: „Von einem Ausbremsen der vierten Welle zu sprechen, ist sicher zu früh.“ In der Tat kann man leicht ein Déjà-Vu bekommen: Im Spätsommer 2020 schien das Thema Corona gefühlt beinahe erledigt, trotz aller Mahnungen. Das sieht auch Thorsten Lehr so: „Dieses Verhalten der Inzidenzkurve haben wir fast auf den Tag genau im letzten Jahr beobachten können.“ Auch damals sei die Inzidenz leicht abgesunken beziehungsweise auf konstantem Niveau verharrt, bevor sie Ende September wieder stark angestiegen sei.

„Bei der aktuellen Impfsituation und den gelockerten Kontaktbeschränkungen ist ein ähnlicher Anstieg Ende September, Anfang Oktober wieder erwartbar“, so Lehr.

Der befürchtete Anstieg dürfte aus Lehrs Sicht durch die sogenannte Saisonalität, also den Einfluss der Jahreszeit, deutlich verstärkt werden. Habe die Saisonalität im Frühjahr und Sommer noch als „Rückenwind“ bei der Reduktion der Infektionen gewirkt, werde sie ab Oktober wohl wieder zum „Gegenwind“.

Hohes Corona-Potenzial: Krankenhäuser könnten im Herbst stark belastet werden

Auch Mobilitätsforscher Nagel hält einen deutlichen Anstieg der Corona-Infektionszahlen mit der herbstlichen Verlagerung von Aktivitäten in Innenräume für wahrscheinlich. Ob das zu einer Überlastung der Krankenhäuser führe, sei noch nicht vorhersagbar. „Empfehlenswert ist auf jeden Fall, dass bis auf weiteres auch Geimpfte vor Begegnungen in Innenräumen einen Schnelltest machen, da auch sie das Virus übertragen können“, so Nagel.

Corona: Ursprung könnte woanders liegen, als bislang gedacht

„Wir haben auch in Deutschland noch das Potenzial, dass die Zahlen im Herbst wieder deutlich hochgehen. Und zwar so hoch, dass auch die Krankenhäuser wieder sehr belastet werden können“, warnt auch Expertin Priesemann. In vielen Altersgruppen seien noch deutlich mehr als zehn Prozent der Menschen nicht gegen Corona immunisiert, etwa Menschen über 50: „Wenn immer noch über zehn Prozent der relevanten Altersgruppe nicht immunisiert sind, dann haben diese zehn Prozent das Potenzial, die Masse, um die Krankenhäuser zu füllen.“ Im letzten Winter seien rund zehn bis 15 Prozent der Menschen infiziert worden, und schon das habe die Krankenhäuser über Monate an die Grenzen gebracht. Deshalb müsse man moderate Vorsichtsmaßnahmen beibehalten.

Grund für vorsichtigen Optimismus – aber nur wenn die Zahlen stimmen

Und doch: Epidemiologe Hajo Zeeb glaubt, dass die Stagnation der Corona-Zahlen Grund für einen vorsichtigen Optimismus sein könnte: „Wir sollten diese Ruhephase vor einem potenziellen Sturm dringend zur Impfung nutzen und nicht mit Wunden lecken und politischen Diskussionen verstreichen lassen.“ und weiter: „Die Hoffnung ist berechtigt, dass insbesondere angesichts der niedrigen Hospitalisierungs- und Sterbezahlen der Verlauf dieses Jahr deutlich günstiger wird – wenn nicht neue Varianten wie in der Vergangenheit diese Aussicht ins Wanken bringen.“

Das allerdings kann nur dann gelten, wenn die Hospitalisierungsrate wirklich stagniert beziehungsweise sinkt. Tatsächlich scheint die Zahl von Corona-Patienten in Krankenhäusern aber höher zu liegen, als es die RKI-Rate vermuten lässt. (mit dpa)

Ein Beitrag von:

  • Peter Sieben

    Peter Sieben schreibt über Forschung, Politik und Karrierethemen. Nach einem Volontariat bei der Funke Mediengruppe war er mehrere Jahre als Redakteur und Politik-Reporter in verschiedenen Ressorts von Tageszeitungen und Online-Medien unterwegs.

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