Corona und Divigate: Waren die Intensivstationen gar nicht überlastet?
Mehrere Wissenschaftler behaupten: Zahlen seien aus politischen Motiven manipuliert worden, das Gesundheitswesen sei kaum belastet durch Corona. Viele der Thesen sind nicht haltbar.
Es ist eines der meistdiskutierten Themen bei Twitter im deutschsprachigen Raum: Unter dem Hashtag #Divigate debattieren zahlreiche Nutzer über die Frage: Hat Corona das Gesundheitswesen wirklich an seine Grenzen gebracht – oder wurden Zahlen manipuliert?
Grundlage der Debatte ist ein Thesenpapier von zehn Wissenschaftlern, das am Sonntag im Internet veröffentlicht worden war. Einer der Wissenschaftler, Matthias Schrappe, hatte zudem in einem Interview die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) hart angegriffen und erklärt, das Gesundheitssystem sei durch Corona nicht an die Grenze der Belastbarkeit geraten. Die Divi weist unterdessen die Vorwürfe entschieden zurück.
Corona, Divigate, Intensivbetten: Worum geht es in der Diskussion?
Quintessenz des Thesenpapiers der Wissenschaftler ist, dass es in Deutschland „erhebliche Überkapazitäten in der stationären Versorgung“ gebe.
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Weiter heißt es: „In keinem Land werden im Vergleich zur Melderate so viele Infizierte intensivmedizinisch behandelt, und in keinem Land werden so viele hospitalisierte Infizierte auf Intensivstation behandelt.“
Außerdem gebe es seit Sommer 2020 weniger Betten auf den deutschen Intensivstationen, obwohl es angesichts der Corona-Pandemie eigentlich einen Ausbau der Ressourcen hätte geben müssen. „Diese Abnahme entspricht genau der Abnahme an freien Betten, so dass der Abfall der freien Betten eher als Folge einer Abnahme der Gesamtkapazität denn als eine Folge einer vermehrten Inanspruchnahme durch Covid-19-Patienten zu interpretieren ist“, heißt es in dem Thesenpapier.
In einem Zeitungs-Interview spricht einer der Autoren des Papiers, der Mediziner Matthias Schrappe, davon, man habe „rückwirkend systematisch“ in die Zahlen eingegriffen. Schrappe sagt unter anderem: „Wenn wir diese Daten mit den heutigen Zahlen im Divi-Archiv vergleichen, sind da in der Spitze plötzlich nicht mehr 34.000 gemeldet, sondern nur noch rund 30.000. Man hat rückwirkend systematisch eingegriffen, sodass überall 3.000 Betten weniger verzeichnet sind. Das ist anrüchig, weil diese Zahlen politische Konsequenzen hatten.“
Corona und Divi: Was ist dran an den Behauptungen?
Der Vorwurf, der im Raum steht, wiegt schwer. Mehr oder minder implizit wird den Intensivmedizinern vorgeworfen, aus politischen Gründen Zahlen manipuliert zu haben. Kann es wirklich sein, dass die Kliniken eigentlich gar nicht an der Belastungsgrenze waren?
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Die Differenz zwischen den 30.000 und den 34.000 Intensivbetten lässt sich schnell und eindeutig erklären – anrüchig ist daran tatsächlich nichts. So hat die Divi ab März die Kinder-Intensivbetten nicht mehr mitgezählt, das kann man das den Tages-Updates entnehmen, die die Intensivmediziner regelmäßig veröffentlichen.
So heißt es am 4. März 2021 im Tagesreport von Divi und RKI:
„Die Tabelle „Intensivmedizinische Behandlungskapazitäten“ berichtet nun in den Versorgungskategorien (Low-,High-Care, ECMO) nur noch die Kapazitäten für Erwachsene. In eckigen Klammern wird weiterhin die Summe der Kinderkapazitäten berichtet. Begründung: Die Kapazitäten für Erwachsene stehen in der gegenwärtigen SARS-CoV-2 Pandemie im Fokus, da schwere Verläufe vordergründig bei Erwachsenen auftreten.“
Die Zahl der nicht mehr eingerechneten Intensivbetten entspricht ziemlich genau: 3.000. Auf Anfrage von ingenieur.de erklärte eine Divi-Sprecherin dazu: „Die angeblich manipulierten Zahlen sind die Trennung zwischen erwachsenen Kapazitäten auf den IST und das Herausrechnen von NICU und PICU, da die Kinderintensivbetten und die Frühchenversorgung in der Covid-19-Pandemie keine Rolle spielen. Man kann diese Zahlen unter www.intensivregister.de je nach Filtereinstellung aber auch wieder hereinrechnen.“
Die Behauptung, jemand hätte die 3.000 Betten „rückwirkend systematisch“ aus politischen Motiven herausgerechnet, ist also falsch.
Wie reagieren die Intensivmediziner auf die Vorwürfe?
In einem offiziellen Statement findet die Divi zusammen mit dem Ärzteverband Marburger Bund deutliche Worte. Man weise „die irreführenden Vorwürfe vom Spiel mit der Angst, der Manipulationen offizieller Statistiken und sogar die Unterstellung, rein aus finanziellem Interesse Patienten intensivmedizinisch zu behandeln, aufs Schärfste zurück“. Auch die Behauptung, Krankenhäuser hätten zu Unrecht Fördergelder für nie aufgebaute Intensivbetten kassiert, sei „nicht haltbar“: „Viele der Anwürfe Schrappes basieren auf Fehleinschätzungen und mangelnder Kenntnis der tatsächlichen Lage in Kliniken.“
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Weiter heißt es: „Sein Vorwurf, es sei Angst geschürt worden, verkennt die Situation des Frühjahrs 2020. Tatsächlich herrschte im März des vergangenen Jahres Angst davor, dass zahlreiche Patientinnen und Patienten nicht mehr ausreichend versorgt, insbesondere beatmet, werden könnten.“
Im April 2020 hatte Christian Karagiannidis, Sprecher des Divi-Intensivregisters, im Interview mit ingenieur.de dazu erklärt: „Viele Krankenhäuser sind gut aufgestellt. Die großen Kliniken haben die Zeit, die sie durch die Maßnahmen der Bundesregierung bekommen haben, gut genutzt. Wir haben die Zeit gut genutzt, das Divi-Register aufzubauen, so dass wir tagesaktuell sehen können, wie viel freie Kapazitäten wir haben und wie viele Intensivbetten belegt sind. Auf den Intensivstationen hatten wir 1.200 gemeldete Covid-19-Patienten in rund 750 Krankenhäusern in Deutschland. Es gibt immer noch ausreichend Kapazitäten zur Behandlung der Erkrankten.“
Aber: Es habe durchaus Grund zur Sorge angesichts der Situation in Italien, Frankreich und vielen anderen Ländern gegeben, wie die Divi jetzt sagt. „Die Politik hat folgerichtig den Aufbau so vieler Intensivbetten wie möglich beschlossen. Dass diese Intensivplätze nicht flächendeckend mit hochqualifiziertem Pflegepersonal betrieben werden konnten, war allen bewusst. Tatsächlich haben aber in allen Bundesländern Kurzlehrgänge stattgefunden, in denen Pflegekräfte auch ohne Intensivpflegefortbildung auf die Versorgung von Beatmungspatienten vorbereitet wurden. Die Krankenhäuser wären somit in der Lage gewesen auch die sogenannte Intensivbetten-Notfallreserve zu betreiben.“
Die Divi greift in ihrem Statement zudem einen Punkt auf, der in den sozialen Medien nach dem Bekanntwerden des Thesenpapiers besonders oft von Medizinern aufgezeigt wurde: Demnach sei „ein Intensivbett nicht nur das vorhandene Bett mit Beatmungsgerät“. Vielmehr gehe es um die Anzahl tatsächlich betreibbarer Betten. Sprich: Es geht um die Frage, ob funktionsfähige Geräte und Material pro Bettenplatz zur Verfügung stehen, und vor allem, ob genügend Pflegekräfte und Mediziner eingesetzt werden können.
Weiter heißt es: „Gänzlich unbelegt ist der Hinweis, im internationalen Vergleich habe die Versorgung der Covid-Patienten in Deutschland unangemessen häufig in den Intensivstationen stattgefunden. Dies ist eben gerade die Stärke der deutschen Krankenhausstrukturen, die schwerkranken Patienten adäquat in den Intensivkapazitäten zu versorgen. Wer daraus eine „Fehlversorgung“ konstruiert müsste gleichzeitig Daten vorlegen, dass die Behandlungsergebnisse in anderen Ländern gleich gut oder sogar besser waren.“
Der Vorwurf, dass Patienntinnen und Patienten unnötig auf Intensivstationen verlegt worden seien, sei „ein wirklicher Schlag ins Gesicht der Ärztinnen und Ärzte und der Pflegekräfte in den Krankenhäusern. Pflegekräfte und Ärztinnen und Ärzte haben in den vergangenen Monaten unter höchster Belastung große Leistungen vollbracht und viele Leben gerettet.“
Die Divi wolle in den kommenden Tagen noch eine „dezidiertere, wissenschaftliche Analyse zu den Fachmeldungen von Herrn Schrappe veröffentlichen“, so eine Sprecherin gegenüber ingenieur.de.
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