Streit über Stickoxidbelastung 14.02.2019, 10:30 Uhr

Der NOx-Grenzwert ist ein Zufallsprodukt

Lungenfachärzte bezweifeln das Risiko der Stickoxidbelastung. Da stehen sie nicht allein. Mehrere Experten haben ähnliche Bedenken. Zumal es viele Gründe für die Überschreitung von Grenzwerten gibt.

Autos im Stau

Foto: panthermedia.net/ssuaphoto

Der NOx-Grenzwert ist ein Zufallsprodukt

An vielen der mehr als 300 Luftmessstationen in Deutschland wird der amtlich festgelegte Grenzwert von 40 Mikrogramm Stickoxiden (NOx) pro Kubikmeter an zu vielen Tagen im Jahr überschritten. Dafür ist im wesentlichen Stickstoffdioxid verantwortlich, so etwa in Stuttgart, in Aachen, Hamburg, Berlin und München. Doch ist das wirklich eine Gefahr für die Gesundheit? Mehr als 100 deutsche Lungenfachärzte sagten nein. Die taz hat nachgerechnet und gravierende Rechenfehler in den Ausführungen des Lungenarztes Dieter Köhler und seiner Unterstützer aufgezeigt. Demnach seien „die Fehler, die Köhler unterlaufen, so gravierend, dass er teilweise das Gegenteil dessen beweist, was er aussagen wollte“, so schreibt es die taz in ihrem Artikel „Lungenarzt mit Rechenschwäche“*. Doch auch andere Institutionen sehen keinen wissenschaftlich haltbaren Zusammenhang zwischen dem Grenzwert und Gesundheitsrisiken.

Am Arbeitsplatz liegt der NOx-Grenzwert bei 950 Mikrogramm

„Warum ist am Arbeitsplatz eine mehr als 20-fach höhere Konzentration zugelassen?“, fragt etwa Arnold Vaatz, CDU-Bundestagsabgeordneter aus Sachsen. Denn die Obergrenze für Fabrikarbeitsplätze liegt tatsächlich bei 950 Mikrogramm pro Kubikmeter, also dem 23-fachen Wert, der für unsere Innenstädte gilt. Arbeitnehmer dürfen diese Luft pro Woche 40 Stunden lang einatmen und das ein ganzes Arbeitsleben lang. Basierend auf Tierversuchen haben das Scientific Committee for Occupational Exposure Limits der Europäischen Kommission, die MAK-Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Ausschuss für Gefahrstoffe (AGS) beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales den Grenzwert für den industriellen Arbeitsplatz so festgelegt. In Büroräumen sind 60 Mikrogramm pro Kubikmeter zugelassen.

Natürlich können diese Werte nicht 1:1 auf die Straße übertragen werden, weil dort nicht nur gesunde Erwerbstägige die Luft einatmen, sondern auch Kinder, gesundheitlich Angeschlagene und Alte. Zur Herkunft des Grenzwertes, dem Unterschied zwischen Innenstädten und Arbeitsplätzen sowie den Messungen, lesen Sie im Artikel „Der Stickstoffdioxid-Grenzwert hat seine Berechtigung„.

Ratten reagieren erst bei 8.000 Mikrogramm NOx/m3

Wie fragwürdig der Grenzwert für Straßen ist, zeigt eine Langzeitstudie des Health Effects Institute in Boston, einer unabhängigen Forschungseinrichtung, die sich auf Luftreinhaltung spezialisiert hat. Die Forscher setzten Ratten monatelang Dieselabgasen aus. Erst bei einer NOx-Konzentration von 8.000 Mikrogramm pro Kubikmeter beobachteten sie leichte Reizungen der Atemwege.

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Helmut Greim, emeritierter Toxikologe an der Technischen Universität München, sagte 2016 vor einem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages, man könne nicht einen einzigen Giftstoff für die gesundheitlichen Risiken verantwortlich machen. Man müsse die Gesamtwirkung des Gemischs aus Stickoxiden, Feinstaub, Kohlenmonoxid und Benzol betrachten. Welche Gefahr von NOx ausgehe, lasse sich mit den heutigen Methoden nicht beziffern. Die Umweltorganisation BUND glaubt es dagegen ganz genau zu wissen: NOx verursache allein in Deutschland jedes Jahr etwa 10.600 vorzeitigen Todesfälle.

In den USA gelten höhere NOx-Grenzwerte

Dann müsste die Todesquote in den USA noch höher sein. Während die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Obergrenze von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter empfiehlt, hält sich nicht einmal Kalifornien daran, obwohl es sich als grünster Bundesstaat der USA stilisiert. Hier sind 57 Mikrogramm NOx/m3 erlaubt, in den meisten anderen Staaten sogar 100 Mikrogramm.

Vorschlag: Ethanol macht Dieselfahrzeuge sauberer

Cornel Stan, Experte für Verbrennungssysteme und Alternative Antriebssysteme an der Westsächsischen Hochschule Zwickau, führt noch ein weiteres Argument für den Dieselmotor ins Feld, der als Hauptverusacher des Problems gilt. Der Treibstoffverbrauch und damit die Kohlendioxidemissionen seien erheblich geringer als bei Benzinfahrzeugen. Für eine weitere Verringerung der Emissionen hat er sogar ein Rezept. Wenn dem Dieseltreibstoff ein wenig Ethanol beigemischt würde, sänken die Stickoxidemissionen drastisch. Ein Alkoholmolekül enthält, anders als Diesel, ein Sauerstoffatom. Das wird bei der Verbrennung in den Zylindern direkt genutzt. Damit ist weniger Luft nötig, die Stickstoff enthält, aus dem Stickoxide entstehen.

Franz Rohrer, Atmosphärenforscher am Forschungszentrum Jülich, der seit vielen Jahren Zusammenhänge zwischen den Emissionen des Verkehrs und der Luftbelastung erforscht, sieht Fahrverbote für Diesel-Pkw äußerst kritisch. In Innenstädten seien sie nur für 33 % der Stickoxidkonzentration verantwortlich. 50 % entfielen dagegen auf Busse sowie kleine und große Lkw. Der Rest hat wieder andere Ursachen.

In einem Gutachten für das Bundesumweltministerium merken Forscher vom Max-Planck-Institut an, dass vier brennende Kerzen die Grenzwerte für Stickoxide schon über die 40-Mikrogramm-Grenze bringen können.

Katalysatoren funktionieren in der Stadt schlecht

So ist sich Rohrer sicher, dass nicht einmal der Einbau von Katalysatoren die Innenstädte entlasten könne. Wegen vieler Stopps and Gos würden die Katalysatoren oft nicht heiß genug, sodass sie die Stickoxide nicht knacken könnten. Er empfiehlt, die Katalysatoren mit einer Zusatzheizung auszustatten, die anspringt, wenn die Solltemperatur nicht erreicht wird. Eine derartige Lösung bietet beispielsweise das Unternehmen Twintec an, das zur Schweizer Baumot-Gruppe gehört.

Wie gefährlich oder ungefährlich die Schadstoffkonzentration in der Luft auch ist: Belastungen sind tunlichst zu vermeiden, wenn Aufwand und Wirkung in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. Der Klimawandel beispielsweise sorgt zusätzlich für eine höhere Belastung, meint Christian Witt, Leiter des Arbeitsbereichs Ambulante Pneumologie an der Berliner Universitätsklinik Charité. „Unsere Städte werden heißer durch den Klimawandel. Das fördert die Konzentration der Schadstoffe, weil die nicht ausgewaschen werden durch Regen“, gibt er zu bedenken und prophezeit: „Es wird hot and dusty werden in unseren Innenstädten.“

 

Welche Argumente die Gegenseite davon überzeugen, dass Stickoxide sehr wohl gesundheitsschädlich und die Grenzwerte daher berechtigt sind, lesen Sie im Artikel „Der Stickstoffdioxid-Grenzwert hat seine Berechtigung

Technische Nachrüstungssysteme gelten vielen als die Lösung des Abgasproblems. Doch Motorenexperte Prof. Thomas Koch hält dagegen. Lesen Sie mehr dazu im Artikel „Warum es sobald keine Hardwarenachrüstung für Diesel-Pkw geben wird

Lesen Sie auch, wo Fahrverbote in deutschen Innenstädten gelten, wo sie drohen und wie es überhaupt so weit kommen konnte.

 

*Die ursprüngliche Version dieses Artikels stammt vom 24. Januar 2019. Die Gegendarstellung der taz wurde am 14. Februar 2019 in den Artikel aufgenommen.

Ein Beitrag von:

  • Wolfgang Kempkens

    Wolfgang Kempkens studierte an der RWTH Aachen Elektrotechnik und schloss mit dem Diplom ab. Er arbeitete bei einer Tageszeitung und einem Magazin, ehe er sich als freier Journalist etablierte. Er beschäftigt sich vor allem mit Umwelt-, Energie- und Technikthemen.

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