Kommentar 18.03.2021, 11:57 Uhr

Digitaler Impfpass: Warum er nichts bringt

Der digitale Impfpass soll im Juni kommen, die EU verkündet Großes. Doch das eigentliche Problem liegt ganz woanders.

Der digital Impfpass soll am 1. Juni kommen - aber für wen eigentlich? Foto: panthermedia.net/Ronstik

Der digital Impfpass soll am 1. Juni kommen - aber für wen eigentlich?

Foto: panthermedia.net/Ronstik

Die Erfahrung lehrt regelmäßig: Ein Pferd von hinten aufzuzäumen ist einfach keine gute Idee. Die Erfahrung lehrt aber leider auch: Regelmäßig wird darauf gepfiffen, was die Erfahrung lehrt. So ist es aktuell auch beim Thema digitaler Impfpass. Um im Bild zu bleiben: Die EU macht sich gerade sehr prominent mit dem Zaumzeug am Hinterteil des Pferdes zu schaffen, während dem armen Tier der Schaum vorne von den Nüstern tropft.

Am 1. Juni soll er kommen: Der digitale Impfpass. Die EU-Kommission hat jetzt die Rahmenbedingungen für das sogenannte digitale grüne Zertifikat vorgestellt. Laut der Verordnung soll ein QR-Code eine Impfung, eine Genesung oder ein negatives Corona-Testergebnis nachweisen. Die Bürger, die einen solchen Impfpass beziehungsweise das grüne Zertifikat haben, können dann de facto in den Genuss kommen, bestimmte Privilegien zurückzuerhalten. So soll der Nachweis etwa das vereinfachen: Inhaber eines digitalen Impfasses sind von Quarantänebestimmungen befreit. Der Sommerurlaub scheint also in greifbare Nähe zu rücken – aber eben nur für Ausgewählte.

Digitaler Impfpass – aber kaum jemand ist geimpft

Die Idee:  Jedes Krankenhaus oder jede Gesundheitsbehörde hat einen eigenen speziellen Signaturschlüssel, die in einer Datenbank in jedem Mitgliedsstaat hinterlegt sind. Über den individuellen QR-Code sollen dann Authentizität und Gültigkeit des grünen Zertifikats überprüft werden können. Die EU-Kommission plant, eine übergeordnete Schnittstelle zu errichten, über das wiederum alle Zertifikatsignaturen aller Mitgliedsstaaten verifiziert werden können. Die Daten des Inhabers werden nicht gespeichert, sie spielen keine Rolle. Das Bundesgesundheitsministerium hat hierzulande derweil bereits mehrere Unternehmen mit der Entwicklung des geplanten digitalen Impfpasses beauftragt.

Und hier kommen wir wieder zu der Sache mit dem Pferd. Wenn wir uns einmal sehr optimistisch geben und davon ausgehen, dass die Entwicklung des grünen Zertifikats über alle bürokratischen und technischen Hürden hinweg tatsächlich funktioniert, dann müssen wir uns die Frage stellen: Für wen das alles? In den EU-Staaten hinken wir deutlich hinterher, was die Impfgeschwindigkeit angeht – und in Deutschland geht es besonders langsam voran.

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Zum Vergleich:

  • In Israel haben 60 von 100 Einwohnern eine Impfung erhalten, mehr als 50 sind bereits vollständig geimpft.
  • In den USA ist die Einwohnerzahl Deutschlands längst geimpft, 22 von 100 Menschen haben eine Dosis erhalten.
  • In Großbritannien sind 37 von 100 Menschen einmal geimpft worden.

In den meisten EU-Staaten indes bewegt sich diese Zahl im einstelligen Bereich. In Österreich sind es 9, in Deutschland gerade einmal 8 von 100 Bürgern, die bis jetzt geimpft worden sind. In Frankreich, Polen, Belgien oder Tschechien sieht es noch schlechter aus. Und jetzt ist erst einmal Impfstopp: Der Impfstoff von Astrazeneca ist in mehreren Ländern, unter anderem in Deutschland, vorübergehend vom Tisch, weil es einige Fälle von Thrombosen bei Geimpften gegeben hat, die im Zusammenhang mit dem Impfstoff stehen könnten. Am heutigen Donnerstag will die Europäische Arzneimittelbehörde EMA entscheiden, ob der Astrazeneca-Impfstoff gegen das Coronavirus weiter verwendet werden soll – oder ob er EU-weit komplett auf Eis gelegt wird.

Ein Impfpass ist gut – ein Impfstoff ist besser

Man darf prognostizieren, dass bis zum Sommer in den meisten EU-Staaten vielleicht ein Drittel der Bevölkerung geimpft ist. Ja, wir werden Impfpass-Lösung brauchen. Aber wir brauchen jetzt vor allem Impfstoff. Statt sich jetzt mit Verfahren zum Impfpass auseinanderzusetzen, was Kräfte und Ressourcen bindet, sollte die EU lieber dringend für Nachschub sorgen. Es drohen massive Lücken – auch weil der EU-Deal mit Biontech/Pfizer eher suboptimal gelaufen ist.

In so manchem Bundesland liegen die Spritzen zur Erstimpfung zwar bereit, doch aufziehen kann man sie nicht. In Sachsen steht beispielsweise wegen eines Lieferengpasses vorerst kein Biontech-Impfstoff mehr zur Verfügung. Das bestätigt Kai Kranich vom Deutschen Roten Kreuz (DRK). Alternativ sollte am – von vielen Menschen lang ersehnten – Impftermin das Vakzin von Astrazeneca angeboten werden. Nun dreht sich das Pferd auch noch im Kreis. Das DRK wies darauf hin, dass sämtliche noch vorhandene Biontech-Bestände für die Zweitimpfungen verwendet werden müssen.

Corona-Schnelltests für Laien: Wie funktionieren sie?

Ein kleiner Trost könnte sein, dass Biontech und Pfizer zugesagt haben, bis Ende Juni zehn Millionen Dosen ihres Impfstoffs mehr an die EU zu liefern als bislang geplant. Bis Ende Juni kann aber noch viel passieren – oder eben auch nicht.

Geimpfte vs. Nichtgeimpfte: Auf dem Weg in die Zwei-Klassen-Gesellschaft?

Mit steigenden Impfungen taucht ein neues Problem auf. Sollen Geimpfte in Zukunft mehr „Privilegien“ haben als diejenigen, die noch warten müssen? Nicht zuletzt jüngere Menschen könnten sich angesichts der Impfreihenfolge benachteiligt sehen. Zuletzt gab es Diskussionen darüber, den Zugang zu Kulturveranstaltungen vom Nachweis über eine Impfung oder eine negatives Corona-Testergebnis abhängig zu machen. Beim Konzertveranstalter Eventim etwa hieß es, man habe zumindest die notwendige technische Voraussetzung dafür, falls es entsprechende politische Vorgaben geben sollte.

Auch für Reisen und Messen gilt: ohne digitalen Impfpass keine Beteiligung. In der Übergangszeit – bis die Pandemie hoffentlich irgendwann ein Ende findet oder zumindest handlebar wird – wird es daruber noch anstrengende Diskussionen geben, die zum Beispiel auch den Ethikrat beschäftigen werden. Bewegen wir uns auf eine Zwei-Klassen-Gesellschaft zu? Ein Eintrag im Impfpass entscheidet darüber, wie wir unsere Freizeit verbringen können. Das wird für Unmut sorgen – vor allem bei allen, die noch auf ein Impfangebot warten.

In Israel stellt man sich diese Fragen nicht (mehr). Das ist ein Verdienst der erfolgreichen und effizienten Impfkampagne. Jeder Bürger und jede Bürgerin ab 16 Jahren kann sich impfen lassen. Bilder von befreit wirkenden Menschen in Fitnessstudios, Hotels, Theater und Restaurants gehen um die Welt – allerdings fernab von Europa.

Ein Beitrag von:

  • Peter Sieben

    Peter Sieben schreibt über Forschung, Politik und Karrierethemen. Nach einem Volontariat bei der Funke Mediengruppe war er mehrere Jahre als Redakteur und Politik-Reporter in verschiedenen Ressorts von Tageszeitungen und Online-Medien unterwegs.

  • Sarah Janczura

    Sarah Janczura

    Sarah Janczura schreibt zu den Themen Technik, Forschung und Karriere. Nach einem Volontariat mit dem Schwerpunkt Social Media war sie als Online-Redakteurin in einer Digitalagentur unterwegs. Aktuell arbeitet sie als Referentin für Presse und Kommunikation beim VDI e.V.

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