Sensortechnik und Internet 15.03.2013, 13:59 Uhr

Direkter Draht zum Gehirn

Hirnforscher erobern neue Sphären. Die EU hat jüngst 1 Mrd. € für eine Komplettsimulation des menschlichen Gehirns bewilligt. Ziel: neuartige Computertechnologien sowie Therapieansätze gegen neurologische Erkrankungen. Schon jetzt legt Sensortechnik den direkten Draht ins Gehirn. Seine Anbindung an das Internet nimmt konkrete Formen an. Ein Segen – mit Risiken.

Im neuronalen Netzwerk des Gehirns fließt Strom. Die Frequenz der Entladungen verrät unsere Aufmerksamkeit. Im Tiefschlaf sind es unter 4 Hz, bei höchster Konzentration 40 Hz.

Im neuronalen Netzwerk des Gehirns fließt Strom. Die Frequenz der Entladungen verrät unsere Aufmerksamkeit. Im Tiefschlaf sind es unter 4 Hz, bei höchster Konzentration 40 Hz.

Foto: istockphoto

Während Biolehrer Arndt Müller die Mendelschen Gesetze erläutert, fällt sein Blick auf die Aufmerksamkeitsprofile seiner Schüler. Drei Kurven auf dem Display fallen ab. „Max, Lara, Hassan! Hier spielt die Musik!“, raunt er. Sollte sein Rüffel nicht fruchten, wird Müller das Trio an Neurosoftware regenerieren lassen. Der Einsatz der EEG-Stirnbänder und Eye-Tracker ist ein voller Erfolg. Gerade schwache Schüler profitieren, weil sie am Ball bleiben. Frustrierende Abwärtsstrudel infolge von Konzentrationsschwäche bleiben ihnen erspart.

Schöne neue Schulwelt. „Mit NeuroSky können Lehrer empirisch überprüfen, ob ihre Schüler aufmerksam sind“, wirbt die gleichnamige, 2004 im Silicon Valley gegründete NeuroSky Inc. Sie entwickelt Sensor-Headsets, die Gehirnwellen aufzeichnen. Elektroenzephalografie (EEG) im Endverbraucherformat. Die Sensorik misst auch durch dichtes Haar hindurch die exakte Frequenz der Hirnströme. Das Hauptaugenmerk liegt auf dem präfrontalen Kortex – jener vorderen Hirnregion, die Denken, Gemütszustand und Konzentration steuert.

Von den Strömen im neuronalen Netzwerk des Cortex lässt sich auf die Aufmerksamkeit schließen. Die Frequenzen reichen von unter 4 Hz im Tiefschlaf bis über 40 Hz bei hoher Konzentration. Als aufnahme- und leistungsfähig gilt das Gehirn von 13 Hz aufwärts. Um das per Headset messbar zu machen, filtert NeuroSky das „Rauschen“ aller Umgebungswellen mit aufwendigen Algorithmen heraus. Vergleichsstudien belegen 96 % Übereinstimmung mit Klinik-EEGs.

Vielfältige Einsatzgebiete der Technik

Die Einsatzgebiete der Technik sind laut NeuroSky vielfältig. Unter- und Überforderung von Schülern macht sie ebenso sichtbar, wie nahende Belastungsgrenzen psychisch Kranker oder hyperaktiver Kinder. Zudem dient der Live-Stream aus dem Hirn zur Steuerung von Spielen. In Binärcodes übersetzte Konzentration bringt Kugeln zum Schweben und pulverisiert Gegner im Videospiel. Ein Dutzend Spiele und Lernanwendungen können Nutzer des EEG-Headsets im App Store der Kalifornier herunterladen. Wie Apple holt das Start-up freie Entwickler ins Boot, die mit Apps neue Anwendungen für die ausgefeilte Sensorik schaffen.

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NeuroSky ist einer von mehreren Anbietern im jungen Markt für mobile EEG-Sensorik. Alle betonen, dass die Systeme keine Gedanken lesen können. Doch sie propagieren die Vision, das Menschen ihre Computer künftig Kraft ihrer Gedanken steuern – statt mit Maus und Tastatur.

„Thought-controlled Computing wird integraler und natürlicher Bestandteil unseres Alltags“, prognostiziert auch das kanadische Start-up „InteraXon“. Sein elegantes EEG-Stirnband „Muse“ sendet das Hirn-Streaming per Bluetooth auf Smartphone oder PC. Nutzer können so in Echtzeit die „Performance“ ihres Gehirns prüfen und an Lern- und Entspannungssoftware trainieren. Durch Stress-Abbau und Konzentrationsübungen sollen sie lernen, es wie einen Muskel zu trainieren.

Anbindung menschlicher Gehirne ans Internet

Der Nutzen der „Denkmuskeln“ und ihrer digitalisierten Impulse kennt laut „InteraXon“ kaum Grenzen. Apps zum Malen, Komponieren und Spielen sind in der Entwicklung, Gedankensteuerung von Zimmerbeleuchtung oder Elektrogeräten soll folgen. „Connecting our brains to the Internet“, fassen Beobachter die Visionen zusammen.

Doch ist Anbindung menschlicher Gehirne ans Internet der Dinge eine gute Idee? Zweifel sind angebracht. Denn schon das Verknüpfen der EEG-Daten mit Eye-Tracking eröffnet eine Möglichkeit, die bei Verbrauchern Unbehagen auslösen dürfte: „Neuromarketing“. Anbieter wie SensoMotoric Instruments aus Berlin oder die Schwedische Tobii Technology Group führen Marktforschung damit in neue Dimensionen. Die Systeme erkennen nicht nur, wie lange Testkunden welche Details an Verpackungen und Produkten betrachten, sondern messen parallel per EEG emotionale Reaktionen. „Wir haben in Studien beobachtet, dass befragte Testkunden ihre Antworten rational filtern. Die Analyse der Sensordaten liefert objektivere Einsichten ins Kundenverhalten“, sagt Tobii-Vice President Tom Eglund.

Die Technik, die Kundenblicke so sicher entlarvt, ist mittlerweile derart miniaturisiert, dass Hifi-EyeTracker in Notebooks integrierbar sind. Auf dem Raum einer Zigarre vereinen sie eine Infrarotquelle, die je nach Modell 30 bis 60 unsichtbare Lichtpulse pro Sekunde in die Augen des Betrachters wirft – und ein Sensorsystem, das das reflektierte Licht analysiert. Sind die Pupillen lokalisiert, registriert es jede noch so kleine Änderung der Blickrichtung. Ob alte oder junge Augen, mit oder ohne Sehhilfen, spielt dabei keine Rolle.

Technik könnte Werbebranche revolutionieren

Die Technik hat laut Eglund das Zeug, die Werbebranche zu revolutionieren. „Es ist denkbar, dass Werbung im Web künftig nach Blick- statt nach Klickraten bezahlt wird – also nach realer Aufmerksamkeit“, erklärt er.

Doch dafür müssten es die Systeme zunächst in die Geräte schaffen. Wie das klappen könnte, zeigt Eglund im Showroom des Unternehmens. Allerlei Spielkonsolen und Computer stehen da. Schnell ist einer der Rechner kalibriert dafür müssen die Augen nur kurz einem orangefarbenen Punkt auf dem Bildschirm folgen. Von nun an reichen Blicke, um den Rechner zu steuern. Ein fester Blick auf die Symbole reicht, um den Webbrowser und eine Bildschirmtastatur zu öffnen. Ohne einen Finger zu rühren, sind schnell die ersten Worte geschrieben, Webadressen eingegeben. Wie von Geisterhand befolgt der Rechner die Blicke des Betrachters, scrollt, öffnet Artikel, schließt Fenster.

Nebenan ein Spiel. Die Erde wird angegriffen. Blicke zerstören die Angreifer schneller, als jede Maus es könnte. Wie hoch ist die Präzision? „Auf die Länge eines ausgestreckten Arms trifft Ihr Blick eine Daumennagel-kleine Fläche“, erklärt Eglund.

Über die Hälfte seines Umsatzes erwirtschaftet Tobii in einem Bereich, wo der Nutzen des Eye-Trackings außer Frage steht: Gut 10 000 Körperbehinderte weltweit kommunizieren mit den Augensteuerungen der Schweden. Darunter eine an Muskelschwund erkrankte Malerin. Seit sie ihre Arme nicht mehr bewegen kann, malt sie ihre Gemälde mit Blicken. „Das Letzte, was aufhört zu arbeiten, sind die Augen“, sagt Eglund.

Verschiedene Zielgruppen für Eye-Tracking

Wertvolle Dienste leistet Eye-Tracking auch in der Ausbildung von Fluglotsen, Piloten und anderen Fahrzeugführern. Halten sie Routinen ein? Nehmen sie Gefahren wahr? Wie steht es um Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit? Die Sensorik kann Leben retten.

Doch auf der anderen Seite öffnet sie Überwachung und Datenmissbrauch Tür und Tor. Misst Eye-Tracking in Notebook, Smartphone & Co auf breiter Front Aufmerksamkeit, so käme das für Datenkraken im Social-Web einer Standleitung ins Hirn der Massen gleich. Ganz zu Schweigen von Geheimdiensten und totalitären Regimes. Auch der Albtraum, dass Blicke mit spielerischer Präzision reale Waffensysteme steuern, rückt näher.

Durch Kombination von Blick- und EEG-Daten verschwimmen Grenzen zwischen Mensch und Maschine. Wem gehört der Blick eines Menschen? Wer darf ihn nutzen? Eglund wiegelt ab: „Neuromarketing findet nur mit freiwilligen Probanden unter Laborbedingungen statt.“ Wird es immer so bleiben?

Das Verschwimmen der Grenzen zwischen Mensch und Maschine birgt Schrecken – und jede Menge Faszination. So viel, dass die EU jüngst 1 Mrd. € Forschungsgelder bewilligte, damit europäische Forscher angeführt von der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) den Versuch starten, ein menschliches Gehirn komplett zu simulieren. Die 1000-fache Leistung heutiger Superrechner wird benötigt. Neue Erkenntnisse von zehntausenden Fachaufsätzen sollen einfließen, um das Miteinander der Hirnregionen bis hinab zur Funktion der 100 Mrd. Neuronen und ihrer 100 Billionen Synapsen nachzubilden.

Gehirn birgt noch viele Rätsel

Noch ist das Gehirn ein Rätsel. Das Team um Hirnforscher Henry Makram ist entschlossen, es im „Human Brain Project“ zu lösen. Dabei kann es sich auf Erkenntnisse aus Makrams „Blue Brain Project“ stützen, das der EPFL-Professor seit 2005 mit Partner IBM vorantreibt. Unter anderem ist es gelungen, eine „kortikale Kolumne“ eines Rattenhirns zu simulieren. Allein im Kortex des menschlichen Hirns dürften 2 Mio. solcher Kolumnen mit jeweils zigtausenden Neuronen und Synapsen arbeiten.

„Gelingt das Vorhaben, werden wir fundamentale Einsichten ins menschliche Wesen erhalten, neue Therapieansätze gegen Hirnerkrankungen und völlig neuartige Computertechnologien“, ist Makram überzeugt. Informations- und Kommunikationstechnologie (ITK) und Biologie hätten einen Grad an Konvergenz erreicht, der den Traum des Computer-Gehirns realisierbar erscheinen lasse. Neue Sequenzierungs- und Bildgebungsverfahren hätten die Hirnforschung revolutioniert. Cloud-Technologie ermögliche nun, Daten aus Forschungsgruppen und Kliniken in aller Welt zusammenzuführen. Neuroinformatik biete Mittel, sie auszuwerten und in eine detaillierte Kartierung des Hirns einfließen zu lassen. Systematisch wollen die Forscher Wissenslücken aufspüren und über Experimente und Simulationen schließen.

Computer sollen die Gehirnforschung massiv beschleunigen – und umgekehrt vom Hirn lernen. Mit der Simulation wollen die Forscher den Grundstein für Niederenergie-Rechner mit Gehirn-ähnlicher Intelligenz legen. Die Risiken und Nebenwirkungen dieser Pläne sind den Initiatoren bewusst. „Es kann möglich werden, mit dem gewonnenen Wissen individuelles Verhalten vorherzusagen – oder gar durch elektrische Stimulation, Pharmakologie oder Neurochirurgie irreversibel zu verändern“, räumen sie ein. Sie fordern eine breite gesellschaftliche Debatte – möglichst schon lange bevor die Horrorszenarien Realität werden können. Es ist höchste Zeit: Schon in zehn Jahren soll der Gehirn-Computer arbeiten. 

Ein Beitrag von:

  • Peter Trechow

    Peter Trechow ist Journalist für Umwelt- und Technikthemen. Er schreibt für überregionale Medien unter anderem über neue Entwicklungen in Forschung und Lehre und Unternehmen in der Technikbranche.

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