Formbare, umweltfreundliche Schiene könnte Gips ersetzen
Seit ewigen Zeiten fixieren Ärzte Knochenbrüche mit Gipsverbänden. Forscher zeigen jetzt, dass sich biologisch abbaubare Kunststoffe besser eignen – und gleichzeitig dabei helfen, Müll zu vermeiden.
Wie medizinische Fachgesellschaften berichten, stellen Ärzte pro Jahr bundesweit mindestens 1,5 Millionen Knochenbrüche mit einem Gipsverband ruhig: ein Verfahren, das auf den Armeearzt Antonius Mathijsen (1805 bis 1878) zurückgeht. Er setzte ab 1851 Gips und Binden ein, um Frakturen zu versorgen. Das bekannte Prinzip hat mehrere Nachteile: Bei Kontrollen müssen Ärzte den Verband entfernen. Das kostet Zeit und Geld, lässt im Krankenhaus aber auch die Müllberge unnötig wachsen. Rund 150 Tonnen Müll pro Jahr sollen auf das Konto von Gipsverbänden gehen, berichten Fraunhofer-Experten. Sie sehen in der neuen Entwicklung große Potenziale für die Anwendung.
Polymilchsäure als ideales Material
Das war für Wissenschaftler am Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung IAP in Potsdam-Golm Grund genug, mögliche Alternativen zu entwickeln. Als industrieller Partner kam noch Nölle Kunststofftechnik hinzu. „Die Anforderungen an das Material waren vielschichtig. Beispielsweise sollte es nur eine halbe bis 3 Minuten verformbar bleiben und danach bei Körpertemperatur hart und stabil werden“, erklärt Helmut Remde. Der Leiter des Verarbeitungstechnikums am Fraunhofer IAP ergänzt: „Die Form sollte zudem mehrfach nachjustiert werden können.“
Weiteren Untersuchungen zufolge erwies sich Polymilchsäure, kurz PLA, als ideales Material. Dieser Polyester besteht aus einzelnen, aneinander gebundenen Milchsäuremolekülen. Er lässt sich chemisch leicht synthetisieren und hat gute mechanische Eigenschaften, um Frakturen zu stabilisieren. Es ist preisgünstig und nicht toxisch. Die Forscher kombinierten PLA mit Füllstoffen und entwickelten eine Rezeptur, die alle medizinischen Anforderungen erfüllte. Zudem stellten sie sicher, dass das Material auch in großem Maßstab produziert werden kann.
RECAST ersetzt Gipsverbände
Nach der Materialauswahl ging es an die Feinarbeit. Wissenschaftler fertigten aus dem Kunststoff Schienen in verschiedene Größen an. Schließlich unterscheiden sich die Gliedmaßen stark in ihrer Geometrie. Im nächsten Schritt wurden die Bauteile auf 55 bis 65 Grad Celsius erwärmt, um sie formbar zu machen. Dann passten Ärzte die PLA-Schienen der Körperform an und ließen diese erkalten. Das dauerte rund 5 Minuten. Um die Schiene komfortabler zu machen, kam eine Vlies-Polsterung aus PLA und Viskose noch hinzu. So entstand das RECAST-System.
Sind später noch Korrekturen erforderlich, reicht es aus, die erhärtete Schiene erneut zu erwärmen, zu formen und wieder erkalten zu lassen. „Wir möchten den Anwendern in Arztpraxen und Krankenhäusern eine schnellere, saubere und vor allem individuelle Versorgung ihrer Patienten ermöglichen“, so Anselm Gröning. Er ist Geschäftsführer der Nölle Kunststofftechnik GmbH. „Für die Patienten soll die Schiene in erster Linie deutlich bequemer und leichter sein.“
3D-Druck für bessere Formen
Nachteile bleiben trotzdem: Kunststoff-Schienen immobilisieren große Körperpartien. Das ist nicht immer medizinisch erforderlich. Gleichzeitig erlahmen Muskeln, weil sie wochenlang nicht zum Einsatz kommen. Auch die Körperpflege ist bei Materialien ohne Aussparungen schwierig. Hier bietet der 3D-Druck interessante Alternativen.
Das geht so: Bei Knochenbrüchen fertigen Ärzte ohnehin Röntgenbilder an, heute handelt es sich meist um digitale Aufnahmen. Die Dateien gehen an einen Computer. Spezielle Software errechnet wabenartige Strukturen. Das heißt, nur Bereiche, die stabilisiert werden müssen, werden auch tatsächlich gestützt. Darüber hinaus sichern luftige Strukturen ein Mindestmaß an Beweglichkeit. Im nächsten Schritt stellt ein 3D-Drucker die passende Orthese her. Mittlerweile lassen sich viele Kunststoffe auf diesem Weg verarbeiten.
Müllkonzepte müssen überdacht werden
PLA hat noch einen weiteren Vorteil. Die Schienen sind nämlich biologisch abbaubar. Das funktioniert nicht unbedingt im heimischen Komposthaufen, was auch niemand erwarten würde. Landen Abfälle in der industriellen Kompostierung, haben sie sich aber innerhalb weniger Monate zersetzt. Vom Abbauverfahren profitieren in erster Linie Arztpraxen oder deutlich seltener auch Privathaushalte. Krankenhäuser haben eigene Müllkonzepte, bei denen eine Kompostierung nicht vorgesehen ist. Vielmehr landen Abfälle in der zentralen Müllverbrennung. Um vom Umweltaspekt zu profitieren, müssten die Orthesen möglichst separat gesammelt werden, was im klinischen Alltag einen weiteren organisatorischen Aufwand nach sich zöge.
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