Haben wir uns auf völlig falsche Corona-Zahlen gestützt? Intensivmediziner im Interview
Das Coronavirus stellt die Intensivstationen vor eine gewaltige Herausforderung, Intensivmediziner Christian Karagiannidis erklärt im Interview, wie sich die Kliniken vorbereiten – und was sich jetzt dringend ändern muss.
Meistens endet es gut. Manchmal aber verläuft eine Corona-Infektion schwer und im schlimmsten Fall landet ein Covid-19-Patient auf der Intensivstation. Corona hat den Klinikalltag verändert, sagt Christian Karagiannidis im Interview mit INGENIEUR.de. Er ist Leiter des ECMO-Zentrums der Lungenklinik Köln-Merheim und Sprecher der Deutschen Intersiziplinären Vereinigung für Notfall- und Intensivmedizin (Divi). Und er glaubt: Wir konzentrieren uns seit Wochen auf die falschen Fallzahlen.
ingenieur.de: Wie sieht der Klinik-Alltag in Zeiten von Corona aktuell aus?
Karagiannidis: Der Klinik-Alltag hat sich so extrem verändert in den letzten Wochen und Monaten, wie ich es selbst noch nie erlebt habe. Aber nicht unbedingt aufgrund der Patienten. Vielmehr sind die psychologischen Auswirkungen enorm. Man merkt schon, dass eine gewisse Unruhe in den Kliniken herrscht, weil keiner so ganz genau weiß, was da auf uns zukommt. Es wird viel diskutiert und das erzeugt bei den Mitarbeitern viel Unsicherheit. Deshalb ist es jetzt so wichtig, dass man aufklärt und die Kliniken sich gut auf die Situation vorbereiten und Notfallpläne erarbeiten. Das schafft Sicherheit.
Gelingt das den Krankenhäusern derzeit?
Viele Krankenhäuser sind gut aufgestellt. Die großen Kliniken haben die Zeit, die sie durch die Maßnahmen der Bundesregierung bekommen haben, gut genutzt. Wir haben die Zeit gut genutzt, das Divi-Register aufzubauen, so dass wir tagesaktuell sehen können, wie viel freie Kapazitäten wir haben und wie viele Intensivbetten belegt sind. Auf den Intensivstationen hatten wir 1.200 gemeldete Covid-19-Patienten* in rund 750 Krankenhäusern in Deutschland. Es gibt immer noch ausreichend Kapazitäten zur Behandlung der Erkrankten.
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In den Sozialen Medien wird bisweilen Kritik an den Maßnahmen der Bundesregierung laut. Viele halten die Beschränkungen für übertrieben und das Coronavirus für überschätzt. Was entgegnen Sie?
Diese Kritik würde ich in gar keinem Fall teilen. Wenn man sich die Daten anschaut, wird das deutlich. In China war es am Anfang so, dass ein infizierter Mensch 2,5 bis 2,9 andere angesteckt hat. In Italien war es zu Beginn so, dass einer zwei weitere angesteckt hat. Aber die Spannbreite ist groß, manche stecken kaum an, andere sehr viel. Daraus resultiert eine exponentielle Kurve. Und Exponentialfunktionen haben immer das Phänomen, dass die Kurve unten bleibt, wenn es am Anfang wenig ist. Aber wenn die Kurve einen gewissen Punkt überschritten hat, kommt es plötzlich zu einer explosionsartigen Verbreitung.
Das Divi hat vor einigen Wochen das Intensivregister gestartet, das tagesaktuell Auskunft über die Auslastung von Intensivstationen gibt. Professor Christian Karagiannidis ist Mitinitiator des Intensivregisters. Mehr Infos dazu hier.
Viele Menschen sehen jetzt, dass es am Anfang nicht so viele Fälle gibt und das wirkt dann so, als sei das völlig ungefährlich. Aber sie sehen eben nicht, was passiert, wenn es in den Exponentialbereich geht, wie in Italien, Spanien oder New York. Ich bin mit vielen Kollegen befreundet, die dort Intensivstationen leiten. Und die haben alle gesagt, das kam schlagartig und ist regelrecht über sie hinweggerollt. Die Maßnahmen sind also auf keinen Fall übertrieben.
Aus ihrer Sicht wäre ein baldiges Ende der Ausgangseschränkungen als nicht sinnvoll?
Das würde ich so nicht sagen. Ich stimme zum Beispiel Armin Laschet schon ein bisschen zu, wenn er sagt, man müsse jetzt darüber nachdenken, wie die Maßnahmen wieder gelockert werden können. Ich glaube, dass man zum jetzigen Zeitpunkt zumindest darüber nachdenken sollte. Aber wir brauchen für eine Entscheidung einen richtig guten Prognoseparameter. Den sehe ich im Augenblick aber nicht.
Das heißt, wir brauchen mehr Daten, um besser abschätzen zu können, wie kritisch die Lage ist?
Wir brauchen vor allem andere Daten. Wir sehen ja jeden Tag diese Infektionszahlen. Jedes Kind kennt ja wahrscheinlich jetzt schon diese schwarze Webseite.
Sie meinen die Karten der Johns-Hopkins-University?
Genau. Aber die Zahlen helfen einem nicht besonders weiter. Die sagen einem zwar was über die Dynamik, aber die helfen uns im Krankenhaus nicht. Das Entscheidende ist die Belastung des Gesundheitswesens. Und die Belastung entsteht in erster Linie durch Patienten, die auf der Intensivstation landen. An der Zahl der Intensivpatienten kann man messen, wie viel wir wirklich schaffen können und wann es kritisch wird. Normale Krankenhausbetten gibt es genug, da gibt es kein Problem. Und bei mehr als 80 % der Menschen verläuft die Krankheit ohne oder mit wenig Symptomen, die bleiben einfach zuhause. Die belasten das Gesundheitswesen nicht. Eine herausragende Bedeutung hat es bei der Belegung der Intensivstationen. Daran ist es in Ländern wie Italien gescheitert. Auch Großbritannien wird ein Riesenproblem bekommen, weil die nicht so viele Intensivbetten haben. Selbst in New York ist es mittlerweile so, dass teilweise 2 Patienten an einem Beatmungsgerät hängen. Wenn man jetzt die Maßnahmen vernünftig steuern will, dann sollte man das meines Erachtens anhand der Zahl der Intensivpatienten machen. Wir kennen die Inkubationszeit und wissen, wie lange diese Patienten auf den Stationen liegen und können anhand einer Kurve aus diesen Zahlen ablesen, wie kritisch die Situation wirklich ist.
Wenn ein Covid-19-Patient so krank ist, dass er auf die Intensivstation muss: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass er die gesund wieder verlässt?
Die Gesamtsterblichkeit über alle Infizierten ist ziemlich niedrig. Ich schätze, dass von allen Infizierten etwa ein Prozent oder weniger auf der Intensivstation landen wird. Die chinesischen Erfahrungen haben gezeigt, dass dort mehr als die Hälfte der Intensivpatienten gestorben ist. Ich glaube, dass wir da in Deutschland besser aufgestellt sind. Die Überlebenswahrscheinlichkeit für Corona-Patienten auf der Intensivstation dürfte sehr deutlich über 50 % liegen.
Mehrere Autobauer wie etwa VW haben zuletzt angekündigt, Beatmungsgeräte herzustellen, während die Autoproduktion brachliegt. Ist das eine gute Idee?
Ich halte das aus mehreren Gründen für eher nicht so sinnvoll. Um Beatmungsgeräte zu bauen, braucht man Spezialisten. Das ist eine sehr anspruchsvolle Technik, da kann man viel falsch machen. Solche Großkonzerne werden das schon hinbekommen, aber da sollte man lieber die unterstützen, die das schon können. Ein weiterer Grund ist: Ja, wir können Beatmungsgeräte ohne Ende bauen, aber die nützen nichts, wenn wir kein Personal haben, das die bedient. Die Diskussion um die Technik ist mir zu einseitig. Viel wichtiger aus meiner Sicht: Wir brauchen mehr Pflegemitarbeiter. Das ist das A und O.
* Stand: 31. März
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