Zukunftswelten 21.09.2012, 11:52 Uhr

Mikrosysteme analysieren Magen, Venen und Tumore

Schöne neue Medizinwelt

Sensoren sollen engmaschige Gewebeanalysen ermöglichen.

Sensoren sollen engmaschige Gewebeanalysen ermöglichen.

Foto: Cima Laboratory at MIT

Pling. Die Kurzmitteilung auf dem Smartphone kommt direkt aus dem Magen von Greta Schmidt. „Einnahmebestätigung der Xylophylan-Pille mit ID 77xx8967 am 15. 2. 2022 um 9.37 Uhr.“ Zeitgleich landet der Datensatz in ihrer digitalen Patientenakte. Ihre Betreuer können so nachvollziehen, dass die Alzheimerpatientin die Antibiotika gegen ihre schwere Lungenentzündung tatsächlich wie verordnet einnimmt.

Geht es nach den Gründern von Proteus Digital Health, wird dieses Szenario schon bald Wirklichkeit. Die amerikanische Food and Drug Administration (FDA) ist bereits einverstanden und erteilte Ende Juli die Zulassung für winzige Sensorsysteme, mit denen das Kalifornische Start-up Arzneien ausstatten will.

Start-up Proteus Digital Health will Arzneien mit Sensoren ausstatten

Einmal geschluckt, sollen die 1 mm² kleinen und 0,45 mm dünnen Siliziumchips ihre Seriennummer samt Datum und Uhrzeit der Einnahme an ein mobiles Gerät übermitteln, das der Patient als elektronisches Pflaster auf der Haut trägt oder in der Kleidung mitführt. Strom für den Datentransfer erzeugen die Chips selbst: Mit Kupfersulfat und Magnesium beschichtet, haben sie Anode und Kathode an Bord. Als Elektrolyt dient die Magensäure. Die elektrochemische Reaktion im Magen liefert etwa 7 min lang 1 V-2 V Spannung. Danach ist der Chip nutzlos und wird auf natürlichem Wege ausgeschieden.

Tierversuche und klinische Tests mit menschlichen Probanden haben gezeigt, dass von den Sensorpillen keine Gesundheitsgefahr ausgeht und dass sie zuverlässig arbeiten: Von fast 3400 verabreichten Chips meldeten 97 % ihre Einnahme.

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Noch sind die Botschaften aus dem Magen zwar knapp, doch Proteus will die Sensorik weiterentwickeln: Künftig soll sie Temperaturen, PH-Werte oder die Transferzeit durch den Darm messen und sogar bei Molekular-Diagnosen helfen, Krankheitsbilder zu präzisieren. Zusätzlich sollen sensorische Pflaster am Leib Bewegungsprofile, Herzfrequenzen und Körpergeräusche aufzeichnen.

Sieht so die medizinische Versorgung der Zukunft aus?

Werden Mikrosysteme den menschlichen Körper entern und seine Funktionen laufend überwachen, damit Ärzte aus der Ferne Diagnosen stellen? Wird das Vertrauensverhältnis zwischen Mediziner und Patient künftig dadurch konstituiert, dass Letzterer dem Arzt Zugriff auf sein persönliches Wireless Body Area Network (WBAN) und die darin erhobenen Daten gewährt?

Proteus-Sensor soll für pünktliche Medikamenteneinnahme sorgen

Die Proteus-Pille zielt zunächst auf Patienten, für die pünktliche Medikamenteneinnahme überlebenswichtig ist: Empfänger von Spenderorganen, die ihre Körperabwehr unterdrücken müssen, HIV-Patienten oder suizidgefährdete psychisch Erkrankte. Auch chronisch Kranken sollen Einnahme- und Erinnerungsmeldungen auf dem Smartphone zu mehr Therapiedisziplin verhelfen.

Doch auf lange Sicht wollen die Gründer von Proteus Digital Health mehr: Über ein Drittel aller Patienten weltweit nehme Arzneien nicht so wie verordnet ein, heißt es im Unternehmen, gefährde dadurch Therapieerfolge und belaste die Gesundheitssysteme mit Milliardenkosten. Sensorpillen sollen diesen Missstand beenden.

Solche Szenarien wecken Kritik. Neben der Frage, wie viel Elektroschrott bei flächendeckendem Einsatz durch die ausgeschiedenen Chips in die Umwelt gelangt, äußern Kritiker Überwachungsängste. So seien Szenarien denkbar, in denen Schnellrestaurants Kunden mit hohen Cholesterinwerten Burger verwehren, Barkeeper keine Drinks ausgeben, weil der Chip im Gastmagen Alkoholunverträglichkeit signalisiert. Die Gründer kontern mit dem Verweis auf Kreditkarten oder soziale Netzwerke. Auch diese könnten zur Überwachung missbraucht werden und die Privatsphäre einschränken. „Doch für viele Millionen Nutzer überwiegen die realen Vorteile die potenziellen Nachteile“, heißt es bei Proteus.

Und damit stehen sie keineswegs allein. Weltweit arbeiten Forscherteams an Mikrosystemen, die dauerhaft in menschlichen Körpern arbeiten sollen.

So auch das Cima-Lab am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Kopf der aus Medizinern, Physikern und Materialforschern bestehenden Forschungsgruppe ist der Ingenieur Michael J. Cima. Seine Idee: Winzige Sensoren sollen bei minimalinvasiven Biopsien von Tumorgewebe ins umliegende Gewebe gepflanzt werden, um Krebserkrankungen zu überwachen. Während Gewebeproben nur eine Momentaufnahme der Krebszellen liefern, sollen Sensoren engmaschige Gewebeanalysen ermöglichen. „Wir nehmen quasi das Labor und implantieren es in den Patienten“, so Cima.

Damit könnten Ärzte künftig besser beurteilen, ob ihre Therapie anschlägt oder wie sie sich optimieren lässt. So hängt es vom Sauerstoffgehalt ab, mit welcher Dosis das Tumorgewebe bestrahlt werden muss. Je weniger Sauerstoff, desto höher die Strahlendosis.

Das Cima-Lab am MIT will mittels Mini-Sensoren das Wachstum von Tumorgewebe analysieren

Um Sauerstoff und andere Signalmoleküle im Gewebe zu detektieren, werden die porösen, kaum erbsengroßen Sensorkapseln von Körperflüssigkeit durchströmt. In ihrem Inneren tragen sie beschichtete, magnetisierte Nanopartikel, die beim Kontakt mit den jeweiligen Zielmolekülen verklumpen. Ärzte können das per Magnetresonanztomografie verfolgen und Rückschlüsse auf das Tumorwachstum ziehen oder bevorstehende Metastasierung erkennen. Noch sind diese Sensoren nicht ausgereift, doch Cima hofft, dass in wenigen Jahren erste Krebspatienten davon profitieren.

Ein anderes implantierbares Mikrosystem seines Labors hat in klinischen Studien bereits den Weg unter die Haut von Osteoporose-Patienten gefunden. Der drahtlos ansteuerbare Chip hatte 20 Dosen eines Medikaments an Bord, das den Patienten regelmäßig injiziert werden muss. Gelagert sind diese Dosen jeweils unter einer feinen Platin-Titan-Folie, die mit einem kleinen elektrischen Impuls aufgeschmolzen wird. Die Forscher arbeiten bereits an Chips, die Hunderte Arzneiportionen speichern können. So wollen sie chronisch Kranken lästige Injektionen samt Arztbesuch ersparen und feinere Dosierung in kürzeren Intervallen ermöglichen.

Bereits im Markt sind Defibrillatoren, die Infarkt-Gefährdete in ihrer Brust tragen. So auch der belgische Fußballprofi Anthony Van Loo. Herzrhythmusstörungen drohten, seine Karriere zu beenden. Er entschloss sich zur Implantation. Im Juni 2009 trat der Ernstfall ein. In einem Ligaspiel sackte der Verteidiger zusammen und blieb reglos liegen. Der Mannschaftsarzt stürmte aufs Feld, aktivierte das implantierte Gerät und wenig später konnte Van Loo den Platz auf eigenen Beinen verlassen.

In Zukunft könnten solche implantierten Mini-Defibrillatoren per WBAN mit Sensoren vernetzt sein, die den Druck in Pulmonal-Arterien überwachen. Druckänderungen in dieser Ader von den Lungenflügeln zur rechten Herzkammer sind bei den ca. 25 Mio. Herzinsuffizienz-Patienten weltweit Frühindikator für lebensbedrohliche Zustände. Doch bisher kann der Druck nur in Kliniken überwacht werden. Deutsche Forscher haben im Projekt Compass (Cardiac Output Monitoring mit pulmonalarteriellen Sensoren) mit Geldern des Bundesforschungsministeriums (BMBF) Wege zur Dauerüberwachung in der Lungenarterie gesucht. Dafür soll ein Sensor in der Lungenarterie per Elektrode mit einem unter der Haut implantierten Radiofrequenz-Implantat verbunden werden, das die Messdaten an einen mobilen Transmitter sendet.

In dem Projekt ging es vor allem darum, wie sich so eine Druckmesskapsel im Blutstrom der Arterie verhält und wie ihre Oberfläche beschaffen muss, damit weder Entzündungen oder Vernarbungen noch Abwehrreaktionen auftreten.

Diesen Fragen geht auch ein Team um die promovierte Ingenieurin Meike Moschallski am Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Institut (NMI) an der Uni Tübingen nach. „Wenn das Gewebe rund um einen implantierten Sensor vernarbt, verfälscht das die Messwerte“, erklärt sie. Deshalb sucht ihr Team Methoden, um Materialien in vitro auf ihre Tauglichkeit für Sensorimplantate hin zu überprüfen. In einem gerade abgeschlossenen Förderprojekt haben sie mit Polymeren und Polylaktaten beschichtete PH-Sensoren auf die sogenannte Chorioallantoismembran von Hühnerembryonen appliziert und beobachtet, wie das Gewebe reagiert. „Im Vergleich zu unbeschichteten Sensoren hat sich deutlich weniger Granulationsgewebe gebildet“, berichtet Moschallski. Letzteres ist die Vorstufe der in Sensornähe unerwünschten Narben.

Langzeitstabile, biokompatible Oberflächen sind die Voraussetzung für den Dauereinsatz von Elektronik im menschlichen Körper. An Ideen mangelt es nicht. So haben sich Forschergruppen in der BMBF-Fördermaßnahme „Intelligente Implantate“ unter anderem mit einem mehrteiligen Mikrosensorsystem befasst, das die elektrischen Aktivitäten und Entladungen im Gehirn von Epilepsie-Patienten überwachen und aufzeichnen soll.

Andere Wissenschaftler planen, künstliche Hüftgelenke mit drahtlos kommunizierenden Sensoren zu überwachen, steuerbare Implantate zur Wasserkopfdrainage zu entwickeln oder mit winzigen piezoelektrischen Elementen Strom aus Augenbewegung zu gewinnen, um implantierte Sensoren damit zu versorgen.

Wieder andere wollen schwindende Sinne alternder Patienten mit Elektronik erhalten. So entwickelt ein Team an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) ein Operationsverfahren, in dem Roboter altersbedingt Schwerhörigen Elektroden in die zuvor genau analysierte und vermessene Hörschnecke (Cochlea) schieben. Der verbliebene Hörnerv soll unversehrt bleiben. Über die Elektroden sendet ein Prozessor dann elektronische Impulse auf den Nerv, die das Gehirn in Laute übersetzt. Bisher fallen solche Cochlear-Implantate für Patienten mit Resthörvermögen aus, da dieses bei der Implantation verloren geht. Verläuft das MHH-Projekt erfolgreich, werden menschliche und künstliche Sensorik künftig Hand in Hand arbeiten.

Ob und wie viel Funkbetrieb sich in den Wireless Body Area Networks der Patienten in Zukunft abspielt, wird weniger eine Frage des technisch Machbaren als vielmehr der Akzeptanz sein. Patienten müssen entscheiden, wie viel Elektronik sie in ihrem Körper akzeptieren. Der Fall des Fußballers Van Loo zeigt, dass diese Entscheidung reiflich überlegt sein will. 

Ein Beitrag von:

  • Peter Trechow

    Peter Trechow ist Journalist für Umwelt- und Technikthemen. Er schreibt für überregionale Medien unter anderem über neue Entwicklungen in Forschung und Lehre und Unternehmen in der Technikbranche.

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