R-Wert unter der Lupe: Warum er die Realität der Epidemien nicht erfasst
Die Reproduktionszahl R dient oft als Maßstab zur Vorhersage der Ausbreitung von Infektionskrankheiten in der Bevölkerung. Forscher der Empa haben ein neues mathematisches Modell entwickelt, das ähnlich einfach wie R ist, jedoch präzisere Vorhersagen liefert, indem es eine „Reproduktionsmatrix“ nutzt.
Der R-Wert, oder Reproduktionszahl, ist eine der zentralen Kennzahlen, die verwendet wird, um die Ausbreitung von Infektionskrankheiten zu messen. Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie wurde dieser Wert häufig in den Medien genannt, um zu zeigen, wie sich das Virus verbreitet.
Inhaltsverzeichnis
- Das Freundschaftsparadoxon: Warum unsere Freunde mehr Kontakte haben
- Was ist der R-Wert?
- Zusammenhang zwischen sozialen Netzwerken und der Ausbreitung von Krankheiten
- Genauigkeit von Vorhersagen zu Krankheitsausbrüchen verbessern
- Reproduktionszahl durch eine Reproduktionsmatrix ersetzen
- Wie wurde die Reproduktionsmatrix entwickelt?
- In anderen Bereichen einsetzbar
Das Freundschaftsparadoxon: Warum unsere Freunde mehr Kontakte haben
Wer hätte gedacht, dass unsere Freunde im Schnitt einen größeren Freundeskreis haben als wir selbst? Diese überraschende Erkenntnis geht auf den US-amerikanischen Soziologen Scott Feld zurück, der 1991 das sogenannte ‚Freundschaftsparadoxon‘ formulierte. Demnach ist es ganz normal, dass unsere Freunde mehr soziale Kontakte pflegen als wir. Der Grund dafür liegt in einer einfachen Wahrscheinlichkeitsrechnung: Menschen mit vielen Freunden sind schlichtweg öfter in den Freundeskreisen anderer anzutreffen.
„Wenn man den Freundeskreis einer beliebigen Person betrachtet, ist es sehr wahrscheinlich, dass in diesem Freundeskreis sehr gut vernetzte Personen mit überdurchschnittlich vielen Freunden vorkommen“, erklärt Empa-Forscher Ivan Lunati, Leiter des Labors „Computational Engineering“ Und genau dieses Prinzip half Forschenden, ein neues Modell zu entwickeln, das die Ausbreitung von Krankheiten besser vorhersagt.
Doch zuerst müssen einige Begriffe erklärt werden.
Was ist der R-Wert?
Der R-Wert gibt an, wie viele Menschen im Durchschnitt von einer infizierten Person angesteckt werden. Es handelt sich dabei um eine momentane Kennzahl, die den Verlauf der Epidemie beschreibt. Wenn der R-Wert über 1 liegt, bedeutet das, dass die Zahl der Infektionen zunimmt, weil jede infizierte Person mehr als eine andere ansteckt. Ein Wert unter 1 zeigt an, dass sich die Epidemie zurückzieht, da jede infizierte Person weniger als eine andere ansteckt.
- R > 1: Die Epidemie breitet sich aus.
- R = 1: Die Zahl der Fälle bleibt stabil.
- R < 1: Die Zahl der Fälle nimmt ab.
Zusammenhang zwischen sozialen Netzwerken und der Ausbreitung von Krankheiten
Ivan Lunati erklärte, dass ein Zusammenhang zwischen sozialen Netzwerken und der Ausbreitung von Krankheiten bestehe. Je mehr Kontakte eine Person habe, desto größer sei das Risiko, dass sie während einer Epidemie andere anstecke. „Die Fallzahlen können nicht unendlich weitersteigen, da die Bevölkerung nicht unendlich gross ist“, sagt Lunati.
Wie der Forscher erklärt, vermehren sich die Krankheitsfälle zu Beginn einer Welle rasant. Das liegt daran, dass viele Menschen noch nicht krank waren und sich anstecken können. Doch mit der Zeit werden immer mehr Menschen immun oder erkranken, sodass die Ausbreitung nachlässt. Irgendwann erreicht die Zahl der Neuinfektionen ihren Höhepunkt und beginnt dann wieder zu sinken.
Die mittels mathematischer Modelle berechneten Infektionskurven dienen zur Prognose des Epidemiegipfels. Basierend auf der Annahme einer konstanten Übertragungsrate pro Infiziertem weichen diese Modelle jedoch häufig von den empirischen Daten ab. Während der initiale Anstieg der Infektionszahlen oft präzise vorhergesagt werden kann, zeigt sich im weiteren Verlauf eine systematische Unterschätzung des Abklingens der Epidemie.
Genauigkeit von Vorhersagen zu Krankheitsausbrüchen verbessern
Gemeinsam mit seinen Kollegen Hossein Gorji und dem Doktoranden Noé Stauffer beschäftigte sich Lunati intensiv mit der Frage, wie man die Genauigkeit von Vorhersagen zu Krankheitsausbrüchen verbessern kann. „Menschen mit vielen sozialen Kontakten stecken sich besonders schnell an, und stecken ihrerseits wieder viele andere an“, sagt der Forschende.
Diese besonders ansteckenden Personen, die in der Forschung oft als ‚Hubs‘ oder ‚Superspreader‘ bezeichnet werden, treiben zu Beginn einer Epidemie die Infektionszahlen in die Höhe. Da sie aufgrund ihrer vielen Kontakte schnell selbst erkranken, führt dies jedoch zu einer Verlangsamung der Ausbreitung, die in traditionellen Modellen, die auf der Reproduktionszahl R basieren, nicht ausreichend berücksichtigt wird.
Reproduktionszahl durch eine Reproduktionsmatrix ersetzen
In einer aktuellen Studie im ‚Journal of the Royal Society Interface‘ schlagen Gorji, Stauffer und Lunati vor, die Reproduktionszahl durch eine Reproduktionsmatrix zu ersetzen. Diese Matrix ermöglicht eine differenziertere Betrachtung der Krankheitsausbreitung, indem sie die unterschiedliche Anfälligkeit verschiedener Bevölkerungsgruppen berücksichtigt.
„Wir wollten über die vereinfachte Interpretation der Reproduktionszahl R hinausgehen und die Komplexität realer Epidemiewellen besser erfassen“ erklärt Hossein Gorji. „Die Reproduktionsmatrix ermöglicht uns eine genauere Vorhersage der Krankheitsausbreitung, indem sie sowohl die Nichtlinearität als auch die Heterogenität berücksichtigt, die bei herkömmlichen Modellen oft übersehen werden.“
Wie wurde die Reproduktionsmatrix entwickelt?
Die Forschenden entwickelten die Reproduktionsmatrix auf Basis von Daten aus anderen Studien. Sie unterteilten die Gesellschaft in Altersgruppen und stellten fest, dass Personen zwischen 10 und 25 Jahren im Durchschnitt die meisten sozialen Kontakte haben.
Allerdings wies Lunati darauf hin, dass die Gruppeneinteilung nach Alter eine Verallgemeinerung sei und dass echte soziale Kontakte komplexer sind.
„Ausserdem nimmt unser Modell an, dass sowohl die Ansteckungen als auch die Superspreader gleichmässig im ganzen Land verteilt sind. Für kleine Länder mit gut verbundenen Regionen und relativ einheitlichen sozialen Strukturen ist diese Annahme wenig problematisch. Bei grossen Ländern müssten wir aber auch die geografische Verteilung der Bevölkerung und die Kontakte zwischen den Regionen berücksichtigen.“
Die Forschenden testeten ihr neues Modell anhand von Covid-Daten aus der Schweiz und Schottland, zwei relativ kleinen Ländern. Sie konnten nachweisen, dass die Matrix deutlich präzisere Vorhersagen von Infektionsspitzen ermöglicht. „Es ist sehr einfach anzuwenden, aber zugleich viel realistischer als der R-Wert allein.“, resümiert Lunati.
In anderen Bereichen einsetzbar
Das neue Modell kann nicht nur bei Epidemien eingesetzt werden, sondern auch in anderen Bereichen, in denen sich Dinge über ein Netzwerk verbreiten. Die Forschenden möchten es in Zukunft nutzen, um zu zeigen, wie Meinungen, Ansichten und Verhaltensweisen in einer Gesellschaft verbreitet werden, zum Beispiel bei der Einführung neuer Technologien oder nachhaltiger Lebensweisen.
Das Forschungsprojekt erhielt Unterstützung vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF).
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