Vierte Corona-Welle? „Gesundheitssystem hat keine Chance“
Die Infektionszahlen steigen erneut – doch muss man den Inzidenzwert jetzt anders betrachten, als vor einem Jahr, sagt Intensivmediziner Christian Karagiannidis. Derweil haben die Kliniken mit einem neuen und akuten Problem zu kämpfen.
Sicher ist gar nichts. Zumindest das ist in den letzten knapp anderthalb Jahren Corona-Pandemie immer wieder deutlich geworden – ein teilweise schmerzhafter Prozess. Viele von uns wähnten sich bereits im Sommer 2020 in einer Zeit „nach Corona“: Ein Trugschluss, der im Lockdown mündete.
Auch in diesem Jahr sanken die Infektionszahlen im Frühsommer, deutschlandweit gab es Inzidenzwerte nahe an der magischen Null. Doch nicht zuletzt die hochansteckende Delta-Variante macht uns jetzt einen Strich durch die Rechnung: Die Ansteckungsrate steigt schnell und deutlich, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn warnte zuletzt gar vor einer möglichen Inzidenz von 800 im Herbst.
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Corona: „Eine Inzidenz von 100 bedeutet jetzt etwas anderes“
Doch die Vorzeichen sind nun andere als vor einem Jahr, sagt Christian Karagiannidis von der Deutschen Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI): „Der Inzidenzwert bleibt weiter wichtig, sehr wichtig sogar, er ist nur nicht mehr 1:1 übertragbar wie wir es bisher gewohnt sind. Da die hohen Impfquoten in den vulnerablen Gruppen zu weniger Intensivbelegung führen bei ähnlichen Gesamtinzidenzen, müssen wir etwas umdenken. Eine Inzidenz von 100 bedeutet jetzt etwas anderes, ist deswegen aber keinesfalls unwichtig.“
Eine Möglichkeit sei es, zu den Inzidenzen die Intensivbelegung und die Krankenhausneuaufnahmen hinzu zu nehmen, so Karagiannidis. „Dann hat man einen besseren Marker der Belastung des Gesundheitssystems als nur über die Inzidenzen. Die Gretchenfrage ist aber die Graduierung der Belastung anhand dieser Parameter.“
Corona in Überschwemmungsgebieten: Warnung an Bevölkerung
Eine zweite Möglichkeit sei, die Inzidenz differenziert zu betrachten – „und zwar in der Altersgruppe Ü50 oder 60 und U50 oder 60 oder in drei Gruppen, also U35, 35-59 und Ü60. Die Inzidenz der Ü50 beziehungsweise 60 ist weiterhin sehr wichtig, weil es das Hauptkollektiv der Intensivmedizin ist.“
Akuter Personalmangel macht Kliniken zu schaffen
Aktuell sei die Lage auf den Intensivstationen halbwegs entspannt, was Corona-Patienten betreffe, so der Oberarzt und Leiter des Ecmo-Zentrums an der Klinik Köln-Merheim. „Wir haben nur wenig Covid-Patienten und auch nur wenig Neuaufnahmen. Das ist gut.“ Doch akuter Personalmangel mache den Kliniken an anderer Stelle zu schaffen. „Weniger gut ist, dass die Intensivstationen zu nicht unerheblichen Teilen über Betriebseinschränkungen durch Personalmangel und anderes klagen. Das kennen wir so aus einem Hochsommer nicht. Ich befürchte zunehmend Spätfolgen der starken zweiten und dritten Welle für die Intensivstationen.“
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Derweil warnen manche Experten bereits vor einer vierten Corona-Welle. Ist das Gesundheitssystem darauf vorbereitet? „Die Frage halte ich für verfrüht“, so Karagiannidis. Es werde einen Anstieg bei den Intensivbelegungen geben, das stehe außer Frage. Aber: „Ob es eine echte Welle wird, die durchaus stark ausfallen kann, hängt einzig vom Verhalten der Bevölkerung und politischen Entscheidungen ab. Hohe Impfquoten und konsequentes Maskentragen können uns eine schwere Welle ersparen. Einzig uns läuft die Zeit langsam davon. Das Impftempo der Erstimpfungen ist zu niedrig geworden.“
Vierte Corona-Welle? „Keine Chance, sich besser aufzustellen“
Eine echte Vorbereitung auf eine solche Welle sei schwierig, so der Intensivmediziner. „Das Gesundheitssystem hat keine Chance, sich besser aufzustellen. Das Nadelöhr ist das Personal in den großen Kliniken.“ Neu sei überdies, dass nun eine andere Bevölkerungsgruppe von Corona-Infektionen betroffen sei als etwa vor einem Jahr: „England zeigt uns, dass jetzt zunehmend junge Patienten betroffen sind. Der emotionale Druck wird steigen.“
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