SARS-CoV-2-Pandemie 31.07.2020, 07:00 Uhr

Was ist besser: regionale oder nationale Lockdowns?

Kommt eine weitere Coronawelle oder kommt sie nicht? Darüber diskutieren Forscher kontrovers. Schon jetzt machen sie sich Gedanken, welche Maßnahmen man ergreifen sollte. Die Ergebnisse einer neuen Studie bringen einige Überraschungen.

Regionaler oder nationaler Lockdown? Das haben Wissenschaftler untersucht. 
Foto: panthemedia.net/yurizap

Regionaler oder nationaler Lockdown? Das haben Wissenschaftler untersucht.

Foto: panthemedia.net/yurizap

Seit etwa einer Woche steigt die Zahl an neuen SARS-CoV-2-Infektionen wieder an, berichtet das Robert Koch-Institut in Berlin. Neben einzelnen Ausbrüchen bei Firmen führen Epidemiologen den Anstieg auf größere Feiern im Familien- und im Freundeskreis, auf Freizeitaktivitäten und auf Reiserückkehrer zurück. Ob eine zweite Pandemie-Welle kommen wird, ist derzeit unklar.

Forscher des Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen haben sich dennoch Gedanken gemacht, welche Strategie im Ernstfall besonders geeignet wäre. Ihre mathematische Simulation zeigt, dass regionale Maßnahmen die Epidemie mit deutlich weniger Einschränkungen unter Kontrolle halten können als national verhängte Lockdowns, wenn die Anzahl überregionaler Infektionen niedrig genug ist. Genau das wäre zumindest momentan in Deutschland der Fall.

Zwei Strategien: Nationale und regionale Lockdowns

Zum Hintergrund: Bei der ersten SARSCoV-2-Welle haben viele Nationen – auch Deutschland – das öffentliche Leben und das Privatleben stark eingeschränkt. Schulen und Betriebe wurden geschlossen. Etliche Menschen müssen seither im Homeoffice arbeiten, und bis heute gelten Abstandsregeln. Grenzen wurden geschlossen, und Reiseverbote erlassen. Danach kamen Lockerungen. Bei aktuellen Ausbrüchen, etwa in Nordrhein-Westfalen, entschloss man sich zu regionalen Maßnahmen, änderte aber nichts an den bundesweiten Lockerungen.

Die Effekte unterschiedlicher Strategien haben Ramin Golestanian vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation und Kollegen jetzt detailliert untersucht. Ihre Überlegung: Es gibt sowohl regionale Kontakte, etwa innerhalb eines Landkreises, als auch überregionale Kontakte. Überregionale Kontakte stehen im Modell für eine gewisse „Durchlässigkeit“, wie es die Forscher nennen. Solche Begegnungen könnten im schlimmsten Fall dazu führen, dass sich Coronaviren weit verbreiten. Als Parameter wurde verändert, wie lange sich Menschen in einem Lockdown befinden.

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Weniger Zeit zu Hause verbringen

Das fanden Wissenschaftler heraus: Im Vergleich zu einer zentralisierten nationalen Strategie können regionale Maßnahmen die Zeit mit Einschränkungen für Bürger erheblich verkürzen – teilweise sogar um den Faktor zehn.

Doch dabei gelten Rahmenbedingungen. „Wenn der Anteil der überregionalen Kontakte nur wenige Prozent beträgt, kann die Zahl der Infektionen durch lokale Maßnahmen in einer Region auf null sinken. Die Maßnahmen in verschiedenen Regionen können dann zusammenwirken und lokale Ausbrüche schneller ersticken als durch überregionale Kontakte neue entstehen“, so Golestanian. „Ein Anstieg der überregionalen Infektionen lässt die Gesamt-Einschränkungszeit jedoch abrupt auf das Level der nationalen Strategie wachsen.“ In dem Fall seien lokale Lockdowns sogar von Nachteil.

„Das Problem ist, dass wir derzeit keine Zahlen über die Rolle von überregionalen Infektionen in der Ausbreitungsdynamik haben“, kommentiert Philip Bittihn.

Er forscht ebenfalls am Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation. „Bei den derzeit niedrigen Infektionszahlen könnten wir diese Informationen durch eine effektive Kontaktverfolgung erhalten“, so eine Hoffnung.

Die Forscher jedenfalls plädieren dafür, herauszufinden, welche Personengruppen überregional ein erhöhtes Risiko haben, SARS-CoV-2 zu verbreiten. Genau hier könnte man ansetzen – und würde so manchen Bürger lange Einschränkungen der Freiheit ersparen.

Frage nach Schwellenwerten

Golestanian und seine Kollegen ermittelten mit ihrer Simulation auch Schwellenwerte, ab denen regionale Maßnahmen beginnen sollten. Sie nennen zehn Infektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen. Das ist deutlich weniger, verglichen mit dem aktuell gültigen Wert von 50 Infektionen pro 100.000 Einwohner in Deutschland.

Wie könnte das gelingen? Man braucht umfangreiche, Engmaschige Testprogramme, um Infizierte zu finden und zu isolieren.

Genau das könnte in Deutschland gut gelingen: „Staaten mit einer kleingliedrigen Regionalstruktur können leichter bestehende Verwaltungsstrukturen nutzen, um lokale Eindämmungsstrategien zu entwickeln und umzusetzen, die die gezeigten Effekte ausnutzen“, so Bittihn.

„Dies liegt daran, dass es in Regionen mit kleinerer Bevölkerung wahrscheinlicher ist, völlige Infektionsfreiheit zu erreichen.“ Staaten mit bevölkerungsreichen Regionen wiederum müssten solche kleineren Einheiten erst aufbauen.

Universelle Übertragbarkeit

Basis der Simulation waren aktuelle Daten aus Deutschland, England, Italien, New York State und Florida. Allerdings seien die Effekte universell, dass man sie in vielen physikalischen Systemen nachweisen könne, die sich nicht im Gleichgewicht befänden und deren Dynamik von einzelnen Ereignissen bestimmt werde.

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Ein Beitrag von:

  • Michael van den Heuvel

    Michael van den Heuvel hat Chemie studiert. Unter anderem arbeitet er für Medscape, DocCheck, für die Universität München und für pharmazeutische Fachmagazine. Seit 2017 ist er selbstständiger Journalist und Gesellschafter von Content Qualitäten. Seine Themen: Chemie/physikalische Chemie, Energie, Umwelt, KI, Medizin/Medizintechnik.

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