Ein einziges Pixel macht den Unterschied: Wie KI Leben retten kann
Die Informatikerin Julia Schnabel und ihr Forschungsteam füttern KI-Systeme mit Patientenbildern. Das Ziel: Die Früherkennung schwerer Krankheiten zu verbessern und Ärztinnen und Ärzten mehr Zeit für ihre Patienten zu geben.
Forschen kann Julia Schnabel zur Not auch im Wohnzimmer. „Als Informatikerin brauche ich nicht viel mehr als einen funktionierenden Computer“, sagt sie und lacht. Das klingt bescheiden angesichts des Umstands, dass es bei ihrer Forschung um nicht weniger geht als Leben zu retten – wenn es sein muss, dann eben im Homeoffice. Erst vor wenigen Monaten ist Julia Schnabel mit ihrer Familie wieder in Deutschland angekommen, mitten in der Corona-Pandemie. 25 Jahre lang hat sie in Großbritannien gelebt und zuletzt am King’s College in London gelehrt.
Jetzt baut die 52-Jährige am Helmholtz-Zentrum in München das neue Institute of Machine Learning in Biomedical Imaging (ILM) auf. Sie und ihr Team arbeiten an Anwendungen, die mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) schwere Krankheiten erkennen, lange bevor sie symptomatisch werden. Dafür bringen die Forscherinnen und Forscher Computerprogrammen mithilfe von Methoden des Maschinellen Lernens bei, auf Ultraschall- oder Computertomographie-Bildern selbständig Anomalien zu erkennen oder vorherzusagen. „Das ist eine sehr interessante Forschungsnische, die Diagnoseinstrumente für Kliniken deutlich schneller und vor allem reliabler macht“, sagt Julia Schnabel.
Studie: KI entschied häufiger richtig als ein Mensch
Die Reliabilität, also die Genauigkeit und Zuverlässigkeit, ist bei der Diagnose entscheidend. Beispiel Hautkrebs: Wird ein Melanom bei einer ärztlichen Untersuchung nicht als solches erkannt, sondern für ein harmloses Muttermal gehalten, kann das fatale Folgen haben. Das kommt in der Praxis immer wieder vor. Studien zufolge gelangen zwei Pathologen bei der Entscheidung, ob es sich bei einer Hautverfärbung um ein gutartiges Muttermal oder ein bösartiges Melanom handelt, in 26 Prozent der Fälle zu unterschiedlichen Ergebnissen. Kann ein Computerprogramm helfen, die Diagnosegenauigkeit zu erhöhen?
Eine Studie des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen (NTC) in Heidelberg legt diesen Schluss nahe. Die Forschenden fütterten eine KI mit 595 Bildausschnitten von Muttermalen und Melanomen. Anschließend sollte das Programm bei 100 unbekannten Proben entscheiden, worum es sich handelt. In einigen Fällen irrte sich die Künstliche Intelligenz ebenso oft wie die Menschen. Doch insgesamt traf der Computer mehr richtige Entscheidungen als die Pathologen – und das mit einer enormen Geschwindigkeit: Weniger als eine Sekunde brauchte das System für sein Ergebnis.
Forschung soll KI-Diagnoseinstrumente sicherer machen
Julia Schnabel und ihr Team machen solche KI-Systeme mit ihrer Forschung effizienter und sicherer. Die Informatikerin malt mit den Händen Bilder in die Luft, während sie erklärt, wie das funktioniert. Mit den Fingern tippt sie kleine Punkte, wenn sie über Bild-Pixel spricht, und deutet einen großen Kreis an, als es um Computertomographen geht: „Ein CT-Bild ist nicht nur ein Sample, sondern besteht aus Hunderttausenden oder Millionen von Pixeln. Und jeder Pixel liefert eine Information. Das heißt, die Datendichte ist bei Bildern besonders hoch.“ Sprich: Schon wenige Bilder können die KI intelligenter machen. Am Beispiel von Hautkrebs: Das Programm vergleicht auf Bildern bestimmte Muster und Farbabweichungen auf Pixelebene miteinander und lernt, diese zu deuten. Je mehr Bilder die KI zum Vergleichen hat, desto schneller entwickelt sie sich und desto sicherer wird sie.
Forschende ahmen mit Nanoscheiben menschliches Gehirn nach
Die anonymisierten Patienten-Bilder für die KI bekommen die Forscherinnen und Forscher am Helmholtz-Zentrum von Kliniken, mit denen sie zusammenarbeiten. Den Patienten sei sie dankbar, sagt Schnabel. „Natürlich haben Menschen mit einer Krankheitsdiagnose oft anderes im Kopf, als ihre Daten der Forschung zur Verfügung zu stellen.“ Besonders wertvoll für die Prognose-Fähigkeiten von KI-Diagnoseinstrumenten sind Bilderreihen von Menschen, die zunächst gesund sind. „Da arbeiten wir mit Daten aus Studien, an denen Menschen teilgenommen haben, bei denen sich erst im Lauf der Zeit Krebszellen entwickeln. Das hilft, um die Prognosefähigkeiten der KI deutlich zu verbessern“, so Schnabel.
Deep Learning: Prognosen lernen anhand von Tumoren
Um diese Prognosefähigkeit noch weiter zu schärfen, setzen sie und ihr Team auch auf Deep-Learning-Methoden. Deep Learning ist ein Teilbereich des Maschinellen Lernens und imitiert in Ansätzen die Funktionsweise des menschlichen Hirns. Wenn wir Menschen lernen, dann benötigen wir als Grundlage Erfahrungen. Je mehr Erfahrungen wir machen, desto besser funktioniert unser Lernverhalten. Das Hirn bildet sich beim Lernen immer wieder um, es entstehen neue Synapsen-Verknüpfungen zwischen den Neuronen. Ähnlich funktioniert Deep Learning bei einem Computerprogramm, das auf einem künstlichen neuronalen Netz beruht. Das wiederum besteht aus drei unterschiedlichen Arten von Knotenpunkten, die jeweils spezielle Aufgaben erfüllen: Die Input-Neuronen nehmen Informationen von der Außenwelt auf, zum Beispiel Bildinformationen. Die Hidden Neuronen, die in mehreren Schichten oder Layern angeordnet sind, verarbeiten diese Informationen. Bei den Output-Neuronen kommt dann das Ergebnis an.
Jedes Input-Neuron entspricht einer ganz bestimmten Information, etwa einer speziellen Farbgebung in einem Bild. Wird ein Input-Neuron getriggert, gibt es die Information über Verknüpfungen an die Hidden Neuronen weiter. Noch kann das System die Information an dieser Stelle nicht eindeutig zuordnen. Erst beim Durchlaufen der Hidden Layer wird die Information immer genauer und für die lernende KI eindeutiger. Durch diesen Ansatz kann die Künstliche Intelligenz bereits erlerntes Wissen mit neuen Inhalten anreichern und verknüpfen. Die Maschine ist dabei in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen, diese immer wieder zu hinterfragen, auf Richtigkeit zu prüfen und neue Verknüpfungen entstehen zu lassen. Ein Eingriff durch den Menschen ist schließlich nicht mehr nötig: Die Maschine lernt von selbst und kann Prognosen erstellen.
„Mithilfe von Deep Learning simulieren wir ganz kleine Noduli und trainieren Algorithmen anhand dieser augmentierten Datensätze, sodass wir im echten Fall erkennen können, ob bösartige Krebstumore daraus entstehen können oder nicht“, erklärt Julia Schnabel, die sich in ihrer Forschung neben Hautkrebs auch auf Lungenkrebs spezialisiert hat. Noduli sind winzige Knötchen oder Tumore in der Lunge, die völlig harmlos sein, sich aber auch zu potenziell gefährlichem Krebs entwickeln können. Jedes Jahr sterben weltweit anderthalb bis zwei Millionen Menschen an Lungenkrebs. Sehr oft wird diese Krebsart erst spät erkannt, weil sie in der Frühphase kaum Beschwerden mit sich bringt. Eine bessere Früherkennung kann Leben retten.
KI im Einsatz bei Standard-Untersuchungen
Julia Schnabels Vision: Bei vielen ärztlichen Untersuchungen könnte eine KI standardmäßig immer automatisch mitlaufen und bei Anzeichen für Krebs Alarm schlagen. „Wenn jemand mit einem Rippenbruch ins Krankenhaus kommt und im CT untersucht wird, könnte die KI parallel Anzeichen für lebensbedrohliche Krankheiten erkennen“, so Schnabel. Es gehe ihr dabei weniger darum, die Grenzen der menschlichen Lebenserwartung auszureizen, als um eine verbessere Lebensqualität für die Menschen. Denn eine Früherkennung schwerer Krankheiten kann lange und qualvolle Leidenswege verhindern. Und: „Unsere Forschung hilft Ärztinnen und Ärzten, sich mehr Zeit für die schwierigen Fälle nehmen zu können. Die Standard-0815-Fälle werden mithilfe von Machine Learning schneller abgearbeitet. Damit ist mehr Qualitätszeit für die Patienten und deren Angehörige übrig.“
Beispiel Schwangerschaftsvorsorge: „Da kann man ziemlich viel automatisieren. Wir können Gynäkologinnen oder Sonographen und Geburtshelfern einiges an Arbeit abnehmen. Die KI kann zum Beispiel schon die biometrische Messung erledigen, den Kopfumfang berechnen und die Position des Herzens anzeigen. Die Mediziner haben dann mehr Zeit für Gespräche mit der werdenden Mutter, für Aufklärung und auch für komplizierte Fälle.“ Die KI sei in diesem Bereich schon sehr weit, sagt Julia Schnabel. „Vielleicht gibt es einen Sonographen, der es noch besser kann, aber unsere Algorithmen sind bei den Standardaufgaben einfach akkurater.“
„Wir lernen von den Ärztinnen und Ärzten“
Ohne den Faktor Mensch gehe die Rechnung aber nicht auf. „Wir werden nie Kardiologen, Radiologinnen oder Neurologen aus der Gleichung entfernen oder sie mit KI ersetzen. Wir lernen von den Medizinern und sie lernen mit uns.“ Die Informatik helfe beim Navigieren und sei als Unterstützung zu verstehen, sagt sie und erklärt das mit einem bildhaften Vergleich: „Nehmen wir Autonomes Fahren. Mit Abstandshaltern auf der Autobahn kann die KI das sehr gut. Aber wenn es mal knifflig wird, wenn plötzlich Schnee auf der Straße liegt, dann braucht man den menschlichen Spezialisten, der eingreifen kann.“
Künstliche Intelligenz: Forscher schützen Patienten mit einer genialen Idee
Dass KI in der Medizin bei manchen auf Skepsis stößt, weiß die Informatikerin. Die Frage, die wie ein analoges Damoklesschwert über der digitalen Entwicklung hängt: Was, wenn wir uns zu sehr auf die Maschine verlassen? „Am Ende trägt der Arzt die Verantwortung, natürlich darf man sich nicht blind auf die Ergebnisse von Algorithmen verlassen. Aber KI hilft, Diagnoseverfahren sicherer zu machen.“ Bei Ärztinnen und Ärzten macht sie drei Gruppen aus: „Manche sind eher konservativ und haben kein Interesse an KI-basierten Diagnoseinstrumenten. Andere sehen, dass das ein Trend ist und wollen mitmachen, weil sie Angst haben, etwas zu verpassen. Und dann gibt es Ärztinnen und Ärzte, die das aktiv mitlernen und entwickeln wollen.“
Ingenieurswissenschaften und Medizin zusammenbringen
Bei ihrer vorherigen Berufsstation am Londoner King’s College hatte sie deshalb ein Graduiertenzentrum für „Smart Medical Imaging“ aufgebaut. „In London saßen Medizinstudenten in meiner Vorlesung und haben Hand in Hand mit angehenden Ingenieurinnen und Ingenieuren gearbeitet. Da wächst eine neue Generation von Ärztinnen und Ärzten, die verstehen will, wie Informatik ihnen helfen kann. Und umgekehrt lernen Informatikerinnen und Informatiker von der Medizin. Ich wünsche mir, dass es da an den Hochschulen stärkere disziplinübergreifende Programme gibt, damit beide Seiten sich wirklich gegenseitig verstehen“, sagt Julia Schnabel. Denn KI werde in Zukunft aus der Medizin nicht mehr wegzudenken sein, sagt sie und zitiert den Radiologen Curtis Langlotz aus Stanford: „Radiologen werden nicht durch KI ersetzt. Aber Radiologen, die keine KI benutzen, werden irgendwann durch diejenigen ersetzt, die sie benutzen.“
Für das Militär zu arbeiten, war kein Thema
Dass die Informatik in der Medizin zu ihrem Fachgebiet wurde, ist kein Zufall, sondern bewusste Entscheidung, erzählt Julia Schnabel. Ende der 80er Jahre belegte sie als Studentin an der TU Berlin eine Seminarreihe über technische Informatik und Bildverarbeitung in der Biomedizin. „Ich fand es immer schon sehr ansprechend, mit Bildern zu arbeiten. Man sieht das Ergebnis und kann Änderungen sofort visualisieren“, sagt sie. In Zeiten des Kalten Krieges, die in Berlin besonders deutlich zu spüren waren, war technische Bildverarbeitung eher ein Thema, das man aus der militärischen Satellitenaufklärung kannte. Für eine angehende Informatikerin hätte auch das ein reizvoller Karriereweg sein können.
Entscheidungen treffen mit KI: Wären Roboter die besseren Richter?
Doch: „Militäranwendungen sind für mich nie infrage gekommen. Das war schon während meiner Diplomarbeit eine bewusste Entscheidung, dass ich das nicht machen will.“ Ein PhD-Angebot im Bereich der Satellitenaufklärung lehnte sie ab. „Ich hab sofort gesagt: Das mache ich nicht, das möchte ich nicht. Forschung in der Informatik sollte einem guten Zweck dienen, und die Menschheit voranbringen. Forschung kann natürlich viele unterschiedliche Ziele verfolgen. Aber für mich steht die Anwendung in der Medizin im Vordergrund.“ Das Ziel verfolgt sie als Informatikerin notfalls auch im Wohnzimmer, in München-Schwabing.
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