„Wir bringen die Neuronen aus dem Takt“
Rund 4 % der Bevölkerung in den Industriestaaten sind von Tinnitus, von quälenden und meist sehr hohen Phantomgeräuschen, betroffen. Der Therapiebedarf ist groß, die Angebote zahlreich. Ein Jülicher Unternehmen hat einen Neurostimulator zur Tinnitustherapie vorgestellt. Mittlerweile tragen bereits 2000 Patienten ein solches Gerät.
Gebäude 15 ist einer dieser funktionalen Betonbauten auf dem weitläufigen Campus des Forschungszentrums Jülich. Professor Peter Tass, Direktor des Instituts für Neurowissenschaften am Forschungszentrum und Mitbegründer der Jülicher Adaptiven Neuromodulation GmbH (ANM), trägt noch seinen weißen Kittel. Er kommt gerade von der Behandlungsstation des FZ – ein neuer Tinnituspatient ist eben eingetroffen.
Im winzigen Büro des Professors wartet Dr. Claus Martini, Geschäftsführer der ANM. „Wir arbeiten hier eng vernetzt“, sagt Martini und hält ein quadratisches, an einen iPod erinnerndes Gerät in die Höhe, an dem ein kleiner Kopfhörer baumelt: „Hier im Forschungszentrum sitzt unsere Vorentwicklung.“
Das kleine Gerät ist der Hoffnungsträger von ANM: Im März 2010 brachte das junge Unternehmen mit diesem CR®-Neurostimulator zur Tinnitustherapie sein erstes Medizinprodukt auf den Markt.
Rund 4 % der Bevölkerung in den Industriestaaten sind von Tinnitus, d. h. von quälenden und meist sehr hohen Phantomgeräuschen, betroffen. Der Therapiebedarf ist groß, die Angebote zahlreich – von Infusionen bis zur Psychotherapie.
Mit dem CR®-Neurostimulator will ANM nun schaffen, was bislang keinem Verfahren zuverlässig gelang: den Tinnitus bei der Wurzel zu packen.
„Wir haben das erste Dreivierteljahr genutzt, um die Therapie und den Markt kennenzulernen und gehen nun auch international in den Roll-out“, beschreibt Martini die Produkteinführung.
Mittlerweile haben hierzulande schon fast zweitausend Patienten den Stimulator mit nach Hause genommen und ließen sich mit den individuell zugeschnittenen Therapietönen beschallen.
Der studierte Maschinenbau-Ingenieur und promovierte Ökonom ist ein Mann, der seine Worte sorgfältig abwägt. Es gebe erste hoffnungsvolle Daten „aus dem Feld“, den Praxen der Hals-Nasen-Ohren-Ärzte, und sehr gute Ergebnisse aus einer klinischen Studie an 63 Patienten. „Es ist, glaube ich, einmalig, dass wir in der Studie zeigen konnten, dass sich nicht nur das subjektive Empfinden des Patienten ändert und über 70 % der Patienten sehr positiv auf die Therapie ansprechen.“ Durch Hirnstrommessungen bei den Studienpatienten sei zudem „statistisch signifikant“ nachgewiesen, dass mit der CR®-Neurostimulation die gewünschten Veränderungen im krankhaften EEG-Bild erzielt und das Krankhafte rückgängig gemacht wurde. Damit ist für Martini ein objektiver Nachweis für den Therapie-Effekt erbracht.
Ihr Verfahren bezeichnen Tass und Martini als „Coordinated Reset“. Es geht ihnen dabei im Kern um ein Zurücksetzen, ein „Reset“, von krankhaft synchroner Aktivität in bestimmten Hirnarealen. Der Tinnitus werde so im Gehirn bekämpft, nicht im Ohr. Die Therapie macht sich dafür Selbstorganisationsprozesse im Gehirn zunutze. „Das ist wie japanische Kampftechnik“, sagt Tass, „man nutzt die Energie des Gegners, um den Gegner zu kontrollieren.“
An einem Schaubild erklärt der Wissenschaftler seine Sicht des Problems: Beim Tinnitus kommen in Regionen der Hörrinde im Gehirn Nervenfasern an, die nicht mehr funktionieren, bestimmte Nervenzellen erhalten vom Innenohr keinen Input mehr, woraufhin die entkoppelten Nervenzellen jetzt durch die Frequenzen in den Nachbarregionen angeregt werden. Sie synchronisieren sich krankhaft mit den Nachbarzellen und beginnen, zur gleichen Zeit und im gleichen Takt „zu feuern“. Das Ergebnis: ein Phantomgeräusch, das Patienten als Ton oder Töne wahrnehmen.
Die Hörschädigungen der meisten Patienten liegen im Bereich höherer Frequenzen, aber es gebe auch Patienten mit tiefen Tinnitustönen, weiß Tass.
Für die Therapie hält er es deshalb für entscheidend, dass die Stimulationstöne genau an die Tinnitusfrequenz angepasst sind: „Wir stimulieren knapp oberhalb und knapp unterhalb der individuellen Tinnitusfrequenz.“ Die Nervenzellenverbände zerfallen dabei in Unterverbände, die zunächst weiter versuchten, sich zu synchronisieren, es aber nicht mehr schaffen. „Wir stimulieren ja an verschiedenen Stellen und zu verschiedenen Zeiten und bringen so die Neuronen aus dem Takt.“
Über einen längeren Zeitraum verlernten die Neuronen die krankhafte Synchronität wieder. Hirnforscher sprechen bei dieser Lernfähigkeit des Gehirns von seiner „Plastizität“.
Im Behandlungszimmer der Klinikstation des FZ stehen die typische Patientenliege und davor ein großer Schreibtisch mit Laptop und Patientenkonsole. „Wir haben eine Software entwickelt, die den Hals-Nasen-Ohren-Arzt durch die Behandlung führt“, erklärt Tass, während auf dem Rechner ein Frequenzband erscheint. Erster Schritt sei immer die genaue Erfassung der Tinnitustöne des Patienten. „Wir bieten dem Patienten Vergleichstöne an. Das ist ähnlich wie beim Augenarzt, der dem Patienten Linsen verschiedener Sehschärfen vors Auge hält.“
Diese Frequenzen kann der Patient modulieren, bis sein Tinnitusprofil genau erfasst ist. Die Software berechnet dann die passenden Stimulationsfrequenzen und programmiert den CR®-Neurostimulator. Ganz wichtig ist für Tass noch ein Lautheitsabgleich: „Die Töne verschiedener Frequenz müssen alle gleich laut wahrgenommen werden, keiner darf hervorstechen, sonst gibt es keinen Therapie-Erfolg.“
Der Patient hört die Stimulationstöne während der mehrmonatigen Therapie über die an den Neurostimulator angeschlossenen kleinen Kopfhörer. Während der täglichen vier- bis sechsstündigen Stimulation kann der Patient fernsehen, arbeiten oder auch schlafen, so Tass. Die Stimulationstöne höre er nur knapp über der Hörschwelle. Über Tasten am Stimulationsgerät kann der Patient die Lautstärke selbst justieren.
Verändere sich der Tinnituston des Patienten während der Therapie, sei eine Anpassung der Stimulationstöne, also die Neuprogrammierung des Stimulators durch den behandelnden Arzt erforderlich.
In der Praxis, ergänzt Martini, habe diese Therapie einen unerwarteten Nebeneffekt gezeigt: Die Hörwahrnehmung vieler Patienten im Bereich der Tinnitusfrequenz verbessert sich. „Das können wir jetzt wissenschaftlich nachvollziehen und verstehen, aber wir hätten es uns vorher so nicht träumen lassen“, gibt der Mediziner zu. Derzeit arbeiten in der Adaptiven Neuromodulation GmbH 30 Mitarbeiter. Zum Personal gehören Arzthelferinnen, Mediziner, Mathematiker, Physiker und Ingenieure.
Die Ingenieure betreuen die Weiterentwicklung der Prototypen der frühen Stimulationsversuche. „Durch ihr technisches Know-how können wir aus diesen Prototypen industrialisierte Medizinprodukte entwickeln.“
Die aktuellen Neurostimulatoren sind für Tinnitusfrequenzen bis 10 000 Hz ausgelegt und erfüllen sehr hohe Anforderungen an Lautstärke und Klarheit in der Darstellung aller Frequenzen, erklärt Martini und zeigt den etwa streichholzschachtelgroßen Computer aus der Nähe. „Das geht weit über das hinaus, was man normalerweise im Hörgerätebereich oder beim MP3-Player hat.“
Nächstes Ziel ist ein Stimulator für Patienten mit höheren Tinnitusfrequenzen. „Dabei muss man Lautstärken abgeben, die dem Start eines Flugzeugs entsprechen, deutlich über 100 Dezibel“, erklärt Martini. „Das ist ein technisches Problem, das wir mit der nächsten Generation von Stimulatoren lösen wollen.“
ANM vermarktet sein Produkt selbst. Da die Neurostimulationstherapie keine Kassenleistung ist, berappt der Patient für Gerät und Therapie gut 3000 €.
Vergleiche man das aber mit den Kosten anderer Tinnitustherapien oder Hörgeräten, sei der Preis relativ günstig, so Martini. Außerdem könne der Patient den Neurostimulator drei Monate lang testen und bei Nichtansprechen auf die Therapie gegen eine Gebühr von 400 € zurückgeben.
Draußen auf dem Gang vor dem Behandlungsraum fallen auf dem blassen Linoleum farbige Linien und Markierungen auf. „Die nutzen wir für Tests mit Parkinson-Patienten“, verrät Tass. Denn seit zwölf Jahren arbeitet er mit seinem Team an einem Hirnschrittmacher gegen die Krankheit. Da hierbei aber die Tiefenregionen des Gehirns betroffen sind, muss man hier zur Stimulation der betroffenen Neuronen eine Elektrode und einen elektrischen Impulsgeber implantieren. Das Hauptproblem: „Wir brauchen immer mehrere Stimulationspunkte im nur erbsengroßen Zielbereich des Gehirns.“ Noch aber hinkt da die Medizintechnik hinterher: „Heutige Elektroden sind viel zu groß, als dass mehrere von ihnen in die Hirnareale eingebracht werden könnten.“
Nicht zuletzt ist auch das Zulassungsverfahren für Implantate sehr aufwendig: „Unsere Ingenieure sind weit über 50 % der Zeit mit Tests beschäftigt, die uns verschiedene internationale Normen vorschreiben“, so Tass.
Mit dem Hirnschrittmacher sollen später einmal Parkinson-Patienten ohne die bislang üblichen Nebenwirkungen wie Sprach- oder Gleichgewichtsstörungen von ihren Symptomen wie dem Tremor befreit werden. Es gebe erste erfolgreiche Vorversuche an etwa 20 Patienten, so Martini. Noch in diesem Jahr soll eine klinische Erprobung des Parkinson-Stimulators starten.
Für die Coordinated-Reset-Technologie sieht der Forscher in der Zukunft noch große Möglichkeiten. „Sie ist im Prinzip überall da anwendbar, wo sich Neuronen krankhaft synchronisieren: etwa bei Migräne, Bewegungsstörungen nach Schlaganfall, ADHS oder eben bei Parkinson.“ Auch in Sachen Schmerztherapie habe es schon erfolgreiche klinische Vorversuche gegeben. Tass ist jedenfalls ganz sicher: „Die Tinnitustherapie wird nicht die einzige Anwendung dieser Technologie bleiben.“
HEIKE FREIMANN
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