Strahlenvernetzung veredelt Polymere für den effizienteren Kunststoffeinsatz
Als in den 50er-Jahren Physiker und Ingenieure nach geeignetem Isolationsmaterial für Kabel in neu entwickelten Kernkraftwerken Ausschau hielten, stießen sie auf ein Phänomen: „Die Daten weisen auf eine durch Strahlen induzierte Vernetzung oder auch Degradation von Polymeren hin“, berichteten sie 1954 in einer britischen Fachzeitschrift. Ein gutes halbes Jahrhundert später ist die physikalische Technologie ihren Kinderschuhen längst entwachsen und erobert mit innovativen Anwendern neue Kunststoffmassenmärkte.
Unweit der Autobahn A4, im beschaulichen Wiehl im Bergischen Land, befindet sich der Hauptsitz von BGS Beta-Gamma-Service. Das 1981 gegründete Unternehmen zählt zu den Pionieren der Bestrahlungstechnik. „Die Vernetzung, also die Veredelung von Kunststoffen mit leistungsstarken Betastrahl-Anlagen geht ruck, zuck!“, sagt Geschäftsführer Andreas Ostrowicki. Vernetzung ist ursprünglich ein Begriff aus der Chemie und beschreibt Reaktionen, bei denen eine Vielzahl einzelner Makromoleküle zu einem dreidimensionalen Netz verknüpft werden. Dabei verändern sich die Eigenschaften des Materials. Ziel ist es in der Regel, Polymerwerkstoffen höhere Härte oder Temperaturbeständigkeit zu verleihen.
Ostrowicki ist Chemiker mit Leidenschaft. „Schon in der Schulzeit hatte ich mein Kellerlabor, in dem es gelegentlich etwas knallte“, berichtet er und erzählt, dass sein Chemielehrer es bald aufgab, ihm noch etwas beibringen zu wollen. Er nutzte schon als Schüler die Universitätsbibliothek, studierte selbstverständlich Chemie in Bonn, und promovierte in diesem Fach, als er gerade 26 Jahre alt war. „Die Faszination der Chemie kommt sicherlich aus der schier unendlichen Fülle der Stofflichkeit, die ich mit ihr handhaben kann, aber ich finde besonders auch ihre abstrakte Komponente spannend sie fordert die Vorstellungskraft bei der Analyse der Veränderungen auf der molekularen Ebene extrem heraus.“
In seinen ersten Berufsjahren entwickelte Ostrowicki bei Bayer thermoplastische Elastomere. „Im Unternehmensbereich Kautschuk haben wir Polymerwerkstoffe mithilfe von allerlei chemischen Ingredienzien vernetzt.“ Aber bald schon wurde aus dem forschenden Chemiker ein Manager. Über Stationen in Kanada, Finnland und Großbritannien, wo er neben seinem Beruf ein Wirtschaftsstudium abschloss, kam er 2008 als Geschäftsführer zu BGS: „In gewisser Weise hat sich damit für mich beruflich ein Kreis geschlossen, denn auch hier geht es um die Vernetzung von Kunststoffen – nun mit einem physikalischen Verfahren.“
BGS regt die chemische Vernetzung von Kunststoffmolekülen mithilfe von präzise eingebrachten Energiemengen an und nutzt dafür Elektronenbeschleuniger unterschiedlicher Leistung (Elektronenstrahlen bzw. Betastrahlen) oder auch eine Kobalt-60-Quelle (Gammastrahlen). Aus physikalischen Gründen kann durch die ionisierende Strahlung in Kunststoffen keine Radioaktivität erzeugt werden. Der hauptsächliche Unterschied beider Strahlenarten besteht in der Durchdringungsfähigkeit und der Dosisleistung. In Anlagen mit Elektronenbeschleunigern wird mit hohen Dosisleistungen gearbeitet, aber mit einer von der Energie abhängigen beschränkten Eindringtiefe. Durch die mittlerweile verfügbaren Beschleunigeranlagen mit hoher Elektronenenergie können inzwischen auch größere Bauteile mit Elektronen „durchstrahlt“ werden.
Gammastrahlen besitzen hingegen eine hohe Durchdringungsfähigkeit bei einer relativ geringen Dosisleistung – abhängig von der installierten Gesamtaktivität. Anwendungstechnisch bedeutet dies, dass in Elektronenbeschleunigern die Dosis innerhalb von Sekunden auf das Strahlgut aufgebracht wird, während dafür in einer Gammaanlage mehrere Stunden benötigt werden.
Bei sehr kompakt aufgebauten Formteilen können Gammastrahlen ihren Vorteil der höheren Eindringtiefe allerdings voll ausspielen. Das hauptsächliche Anwendungsgebiet von Gammastrahlen ist heute jedoch die Strahlensterilisation etwa von medizintechnischen Produkten oder etwa von Rohstoffen für Kosmetika.
Da zur Vernetzung von polymeren Werkstoffen relativ hohe Bestrahlungsdosen notwendig sind, nutzt BGS hierfür in der Regel Elektronenstrahlen: Bei der Durchdringung des Polymers werden die Elektronen abgebremst und geben über eine Kaskade an Sekundärelektronen Bewegungsenergie an das Material ab. Daraufhin brechen die Makromoleküle statistisch in Radikale auf, die die Vernetzung mit weiteren Makromolekülen bewirken. Die Metamorphose geschieht im Handumdrehen: Gewöhnliche Kunststoffe wie Polyethylen oder Polyamid verwandeln sich unmittelbar in Werkstoffathleten mit verbesserter Wärmeformbeständigkeit bei höheren Gebrauchstemperaturen, mit verbesserter Verschleiß- und Abriebfestigkeit, besseren Rückstelleigenschaften und größerer Beständigkeit gegenüber Lösungs- und Reinigungsmitteln oder anderen Betriebsstoffen.
„Weil es sich bei der Strahlenvernetzung insgesamt um einen physikalischen Prozess handelt, können wir das angestrebte Ergebnis punktgenau erreichen“, erläutert Ostrowicki. „Und weil wir keine chemischen Rückstände im Material hinterlassen, sind strahlenvernetzte Kunststoffrohre zum Beispiel auch für den Trinkwassertransport absolut sicher.“ Generell werde das Eigenschaftsspektrum der Kunststoffwerkstoffe so erweitert, dass eine Vielzahl neuer Anwendungen erschlossen werden könne: „Die Automobilindustrie beginnt gerade, diese neuen Möglichkeiten zu entdecken, oder denken Sie an die Solarindustrie, deren Photovoltaik-Verkabelung – auf den Dächern Wind, Hitze und Kälte ausgesetzt – über einen Zeitraum von 25 Jahren sicher funktionieren muss.“
„Die Bestrahlungstechnik hat inzwischen einen Reifegrad erlangt, der sie auch für qualitativ sensible Massenmärkte wie die Automobilindustrie tauglich macht“, führt Ostrowicki aus und ergänzt: „Ich bin sicher, dass wir noch gar nicht wissen, mit welchen Innovationen uns die Strahlenvernetzung von Kunststoffen in den kommenden Jahren noch überraschen wird.“
Eine solche Überraschung kommt aus Frankreich. Schon lange ist bekannt, dass eine Bestrahlung von Polypropylen – anders als bei Polyethylen oder Polyamid – nicht dessen Materialeigenschaften verbessert, sondern schon bei einer niedrigen Bestrahlungsdosis der umgekehrte Effekt auftritt: Indem die Strahlen die Molekülketten spalten, verringern sie das Molekulargewicht, verbunden mit einer Verringerung der mechanischen Festigkeit und einer Reduktion der Schlagzähigkeit.
Auf jeden Fall wird das Polypropylen durch die Bestrahlung spröder. „Diesen in der Regel unerwünschten Effekt nutzt André Tartaglione, Gründer und Inhaber der in Oyonnax beheimateten Firma Sériplast, auf ganz pfiffige Weise für die Entwicklung von Kunststoffampullen als Ersatz für die in der Medizin üblichen Produkte aus Glas“, so Ostrowicki. Für eine Serie von Ampullen unterschiedlicher Größen von 1,5 ml bis 11 ml aus einem speziellen Polypropylen sah er unterhalb des Ampullenspießes konstruktiv eine ringförmige Einkerbung vor. Diese Sollbruchstelle werde bei Bestrahlung so spröde, dass der Spieß mit einem leichten Druck – splitterfrei – abgebrochen werden kann. Glasampullen sorgten dagegen mit ihren scharfkantigen Abfällen immer wieder für Verletzungsgefahren.
„Inzwischen hat Tartaglione zahlreiche Zulassungen für seine Ampullen erhalten“, freut sich Ostrowicki als Partner innovativer Entwickler. „Auch mit Hochschulen und Forschungseinrichtungen wollen wir künftig intensiver zusammenarbeiten, um die Potenziale unserer Technologie in all ihren Verästelungen auszuloten.“ Zurzeit beteiligt sich BGS an einem Forschungsprojekt, bei dem es um die Verbesserung der mechanisch-physikalischen Eigenschaften von faserverstärkten duroplastischen Kunststoffen geht. DIETER BESTE
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