Von Praxisschock kann keine Rede sein
Die Evonik Industries AG ist das fünftgrößte deutsche Chemieunternehmen. 2007 gegründet – zu den Vorläufern gehörte neben der Ruhrkohle AG auch Degussa – ist noch immer viel Aufbruchstimmung in dem Essener Unternehmen zu spüren. Sie prägt auch die tägliche Arbeit der Ingenieure.
Evonik Vorstandsvorsitzender Klaus Engel sieht den Spezialchemie-Konzern „in einem schwierigen Umfeld weiter gut unterwegs“, auch wenn die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen herausfordernd sind. In 2011 hatte das Unternehmen mit über 33 000 Mitarbeitern einen Umsatz von 14,5 Mrd. € erzielt. Für das Gesamtjahr 2012 erwartet der Konzern einen leicht höheren Umsatz sowie operative Ergebnisse auf oder knapp über dem Niveau von 2011.
„Wir haben bisher wirtschaftlich und unternehmerisch eine sehr erfolgreiche Entwicklung durchlaufen und wollen weltweit investieren in neue Chemieanlagen: Das sind natürlich ideale Voraussetzungen für junge Ingenieurinnen und Ingenieure, die ihren Weg in der Chemieindustrie suchen möchten. Wir sind in mehr als 100 Ländern mit über 50 Standorten rund um den Globus aktiv und betreiben Produktionsanlagen in 24 Ländern, da ergeben sich für die Mitarbeiter eine Vielzahl von Möglichkeiten“, konstatiert Thomas Wessel, Personalvorstand und Arbeitsdirektor der Evonik Industries AG. „Ein wichtiger Bestandteil unserer Personalstrategie ist es, weiterhin rechtzeitig qualifiziertes Fachpersonal zu gewinnen und dauerhaft an uns zu binden. Damit unterstützen wir wesentlich unsere ambitionierten globalen Wachstumsziele.“
In Deutschland, so Wessel, sei Marl der größte Chemiestandort von Evonik mit rund 6500 Beschäftigten, mit „fantastischen Produktionsanlagen“, in die ebenfalls weiter investiert werden soll.
Wegen der Vielzahl von neuen Projekten, aber auch vor dem Hintergrund der Altersfluktuation, sucht Evonik derzeit im Bereich Verfahrenstechnik und Engineering in den Fachgebieten Partikeltechnologien, Fluidverfahrenstechnik, Reaktionstechnologie, Umwelttechnologie, aber auch im Bereich Supply-Chain-Management sowie im Anlagenbau nach neuen Ingenieuren und Ingenieurinnen.
Über ein Praktikum bei der alten Degussa kam Olivier Zehnacker zum Unternehmen. Schon länger fasziniert von der Kombination aus Ingenieurwissenschaften und BWL, ging der an der renommierten Chimie ParisTech ausgebildete Verfahrenstechniker vor dem Stellenantritt zunächst noch für ein BWL-Zusatzstudium (jeweils sechs Monate Theorie und Praxis) zurück nach Frankreich. „Wie sich die großen Industriekonzerne strategisch positionieren, wie sie Allianzen eingehen, finde ich sehr interessant. Und wenn ich an die Produktionsausbeute denke, rechne ich nicht in Kilogramm, sondern in Euro“, berichtet Zehnacker.
Seit sechs Jahren arbeitet er nun in der Verfahrenstechnik in Marl, seine Arbeitsgruppe heißt „Anwendungsorientierte Verfahrenstechnik“. Zu den Aufgaben gehört auch die Konzeption von möglichen Neuanwendungen. „Im Vergleich zur klassischen Verfahrenstechnik machen, sind wir noch näher am Markt, da wir schon relativ viele Anforderungen von den externen Kunden bekommen. Es ist eine sehr interessante Zusammenarbeit zwischen der Verfahrenstechnik, den Geschäftsbereichen und den externen Kunden“, erläutert der dreißigjährige Elsässer.
Da Evonik, wie alle großen Chemiekonzerne, international ausgerichtet sei, ergäben sich längere Auslandaufenthalte oder häufige Dienstreisen, aber viele Kollegen hätten ihre Aufgaben weiterhin in Deutschland. Das gelte auch für seinen Arbeitsbereich. Der Wechsel vom Praktikum in die jetzige Tätigkeit sei kein großer Sprung gewesen, sondern mehr eine kontinuierliche Entwicklung. Die Intensität der Arbeit sei schon anders als zu Anfang, aber mit wachsender Erfahrung sei man immer besser in der Lage, einige Aspekte zu priorisieren und so die Arbeit gut zu strukturieren, beschreibt Zehnacker den Lernprozess der ersten Berufsjahre.
Von Praxisschock könne überhaupt keine Rede sein, bestätigt auch Kollege Dirk Astrath, Leiter der Arbeitsgruppe Simulationstechnik in Marl. Im Vergleich zur Uni gäbe es einen schnelleren Wechsel der Aufgaben. Es müssten manchmal zwei, drei Projekte parallel bearbeitet werden, woran man sich erst einmal gewöhnen müsse. „Chemie- und Verfahrenstechnikingenieure steigen über den Bereich Verfahrenstechnik und Engineering ins Unternehmen ein. Es ist learning on the job. Man bekommt eine konkrete Aufgabe und wird vom ersten Tag an gefordert. Das ist aber kein Hexenwerk. Und es gibt natürlich begleitende Seminare, um den Einstieg im Konzern zu erleichtern.“ Die größte Umstellung zur Uni sei eigentlich, zum ersten Mal darüber nachzudenken, wie die eigene Arbeit tatsächlich bewertet wird, nämlich in Euro, erläutert Dirk Astrath.
Für den 38-Jährigen stand schon früh fest, Verfahrenstechnik studieren zu wollen. „Nach dem Zivildienst habe ich an der TU Berlin Verfahrenstechnik studiert und dort auch schon an meinem Promotionsprojekt gearbeitet, bin dann mit meinem Doktorvater nach Erlangen gegangen und habe die Promotion dort auch abgeschlossen“, berichtet Astrath.
In dieser Zeit bewarb er sich bei der alten Degussa, das interessanteste Stellenangebot des Konzerns führte ihn dann aber nicht, wie eigentlich erwartet, nach Hanau, sondern nach Marl. „Hier beschäftige ich mich mit Prozesssimulation. Wir bauen mittlerweile, den Flugsimulatoren ähnlich, dynamische Simulationen von Neuanlagen, um so die Anlagenfahrer frühzeitig schulen zu können.“ Als Einstiegsaufgabe arbeitete Astrath gemeinsam mit einem Kollegen eineinhalb Jahre an solch einem Projekt. Danach bekam er einen internen Kunden zugewiesen, betreute verschiedene Projekte und war dann auch dafür verantwortlich, die mit dem internen Kunden verbundenen Aufgaben in der Abteilung zu verteilen. „Es wurde also auch etwas organisatorischer. Nach zwei Jahren wurde ich gefragt, ob ich die Leitung des Simulationsprojektes übernehmen möchte“, berichtet der gebürtige Berliner, der wie sein französischer Kollege Olivier Zehnacker längst die Lebensqualität, das Freizeit- und Kulturangebot im Ruhrgebiet schätzen gelernt hat.
„Aus meiner Sicht kann ich nur empfehlen, den Weg in die Chemieindustrie zu wählen. Das sind sichere, zukunftsorientierte Arbeitsplätze. Und entgegen der zuweilen landläufigen Meinung, ist das auch von der Kommunikation her ein sehr interessanter Job. Man ist kein Einzeltäter am Schreibtisch, arbeitet eigentlich nur noch in Projektteams, mit sehr viel Austausch. Mir ist nie langweilig, ich habe wenig standardisierte Arbeit, immer wieder neue Projekte, neue Anforderungen, die es zu meistern gilt“, zieht Dirk Astrath Bilanz. MANFRED BURAZEROVIC
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