Auf der Suche nach neuen Zielen im Weltraum
Die europäischen Raumfahrtnationen planen derzeit ihre Zukunft im Weltall. Im November wollen sie ihre Politik für die kommenden Jahre festlegen. Aber auch langfristig lassen sich erste Konturen erkennen.
„Um Fortschritte zu machen, müssen wir Risiken eingehen“, so der Chef der Europäischen Weltraumagentur ESA, Jean-Jacques Dordain. Nur welche?
Lange Jahre hieß die Botschaft für die europäische Raumfahrt: Immer der amerikanischen Nasa nach. Das hat sich dramatisch geändert: Heute versorgt der europäische Raumtransporter ATV (Automated Transfer Vehicle) die Internationale Raumstation ISS mit dem Forschungslabor Columbus, das ebenfalls eine europäische Entwicklung ist. Den Amerikanern fehlen dazu nach der Einstellung des Shuttles die Möglichkeiten.
Das europäische ATV kann zudem völlig automatisch an der ISS andocken. Die Technik dafür, so Evert Dudok, Geschäftsführer der Astrium GmbH in Bremen, „hat nur Europa“.
Und die europäische Trägerrakete Ariane 5 hat gut 50 % des weltweiten Marktes für kommerzielle Raketenstarts erobert und ihren US-Wettbewerbern das Leben schwer gemacht. „Wir sind“, so Jean-Yves Le Gall, Chef der Ariane-Betreibergesellschaft Arianespace, „der globale Marktführer geworden. Wir sind die Nr. 1.“
Doch jetzt scheinen die beiden europäischen Erfolgsmodelle – ISS samt Columbus und die Ariane-Rakete – in ihrer gegenwärtigen Form allmählich zu Auslaufmodellen zu werden. Die Frage ist, wohin der Weg gehen wird. Welche Risiken müssen die Europäer eingehen, um auch in den nächsten 30 Jahren ihre Position im Weltraum zu verteidigen oder sogar auszubauen?
Im kommenden November treffen sich die verantwortlichen Minister der mittlerweile 20 in der europäischen Weltraumorganisation ESA vertretenen Länder in Italien, um die mittelfristige Zukunft der europäischen Raumfahrt festzulegen. Schon heute zeichnen sich jedoch erste Konturen ab, in welche Richtung sich die europäische Raumfahrt in den nächsten 20 Jahren entwickeln wird.
Die Nutzung der Internationalen Raumstation ISS ist derzeit auf 2020 terminiert, Branchenkenner gehen jedoch davon aus, dass gute Chancen bestehen, dass sie auch noch bis 2025 genutzt wird.
Die Europäer müssen dafür, dass ihr Forschungslabor Columbus an die ISS angedockt ist, einen Anteil an den Betriebskosten der ISS leisten, der bei gut 450 Mio. $ pro Jahr liegt. Das tun sie bisher, indem sie den europäischen Raumtransporter ATV zur Wartung und Versorgung der Station ins All schicken. Doch damit ist es 2015 vorbei, die Produktion des ATV läuft aus.
Was danach kommt, ist offen. „Aktuell“, so Johann-Dietrich Wörner, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), „gibt es eine Anfrage der Nasa an die Europäer, das ATV als Service-Modul für die amerikanische Orion-Kapsel weiterzuentwickeln.“ Die so modifizierte Orion-Kapsel könnte dann schon in einigen Jahren Astronauten zum Mond oder zum Mars bringen – aber auch zur ISS – und so den europäischen Beitrag zu ihrem Weiterbetrieb leisten. Dieses System, so Dudok, „wäre für einen ISS-Nachfolger ebenso geeignet wie für eine Mission zum Mond und darüber hinaus“.
Wenngleich sich auch ein anderes Szenario vorstellen ließe für das, was nach ISS und Columbus kommen könnte: „Die Erfahrungen auf der ISS“, so Wörner, „haben gezeigt, dass eine ständige Bemannung einer solchen Station nicht unbedingt von Vorteil sein muss: Denkbar wären kleine Forschungsmodule, die unbemannt betrieben werden.“ Diese könnten dann „nach Bedarf“ von Astronauten besucht werden, um Experimentiereinrichtungen zu warten oder wieder zur Erde zurückzubringen. Auch eine solche unbemannte Station ließe sich von einer europäisch-amerikanischen Kapsel versorgen.
Gegenwärtig arbeiten die Europäer auch an einer Nachfolgeversion der Ariane 5, der Ariane 6. Ein gewisser Konflikt ist in dieser Frage zwischen Franzosen und Deutschen entstanden: Die Deutschen, die einen großen Teil der Ariane 5 bei Astrium in Bremen fertigen, wollen die gegenwärtige Ariane 5 zu einer Ariane 5 ME (Midlife Evolution) weiterentwickeln und erst zu einem späteren Zeitpunkt über die Ariane 6 entscheiden. Die Franzosen hingegen wollen schnell mit der Entwicklung der Ariane 6 beginnen.
Die Ariane 5 ME hat bis zu 12 t Nutzlast, fliegt aber nur dann wirtschaftlich ins All, wenn sie mindestens zwei Satelliten an Bord hat. Die Ariane 6 wird um die 6 t Nutzlast haben und kann nur einen großen Satelliten transportieren.
Der Konflikt wird wohl in einem Kompromiss enden. Warum, so Evert Dudok, „soll diese exzellente Rakete (die Ariane 5) nicht noch verbessert werden und auch in 25 Jahren noch erfolgreich fliegen? Möglicherweise wird sie dann ergänzt um eine weitere europäische Trägerrakete, die eine andere und wohl kleinere Nutzlast hat“ – sprich die Ariane 6.
Den Ausschlag geben dürften die Kosten: Die Weiterentwicklung zur Ariane 5 ME soll noch gut 1,6 Mrd. € kosten, 500 Mio. € sind bereits geflossen. Die Ariane 6 soll nach Industrieschätzung über 5,3 Mrd. € verschlingen.
So wird Europa in den kommenden Jahrzehnten kaum völlig neue Technologien vorstellen, was die großen Infrastrukturen im Weltraum angeht. Wiederverwendbare oder sogar horizontal startende und landende Raumtransporter sind derzeit kaum ein Thema. Denn letztlich, so Arianespace-Chef Le Gall, sind die aktuellen Einmal-Raketen „weit weniger teuer als wiederverwendbare Systeme“.
Dennoch untersucht auch die europäische Weltraumorganisation ESA weiterhin derartige Konzepte. Auch einzelne ESA-Länder wie Großbritannien, die sich bisher weder an der ISS noch an der Ariane groß beteiligt haben, forschen an solchen „disruptive technologies“ – Technologien die große Innovationssprünge möglich machen. Und die könnten auch in Richtung völlig neuer Raumtransportsysteme gehen.
Vor dem größten Sprung aber scheut Europa bisher zurück. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es nur zwei Nationen, die Menschen in den Weltraum und wieder zurück bringen können: Russland und China. Indien plant einen bemannten Weltraumflug für 2016.
Deshalb sollte Europa, forderte vor kurzem Sergey Saveliev, stellvertretender Direktor der russischen Weltraumagentur Roskosmos, sich endlich entschließen, ein eigenes Raumtransportsystem zu entwickeln, das auch Astronauten ins All befördern kann. So etwas stößt in Europa nicht nur auf taube Ohren. Astrium hat bereits eine Machbarkeitsstudie für die Aufwertung der Ariane 5 für bemannte Missionen vorgelegt. „Wir sind startbereit“, so Dudok.
Doch davon ist Europa noch weit entfernt, nicht zuletzt, weil das, so DLR-Chef Wörner, „viel Zeit und Geld“ kostet, wovon vor allem Letzteres angesichts der europäischen Kassenlage knapp ist. Und um ein solches Vorhaben in 25 Jahren zu realisieren, müsste die Entscheidung „im Verlauf dieses Jahrzehnts erfolgen“.
Sollte sich Europa allerdings entscheiden, mit den USA die Technik des ATV als Service-Modul für die amerikanische bemannbare Orion-Kapsel zu entwickeln, wären Deutschland und Europa einer „man-rated Trägerrakete einen großen Schritt näher gekommen“, so Astrium-Deutschland-Chef Evert Dudok.
Sicher ist aber, dass Europa auch in Zukunft seinen unabhängigen Zugang zum Weltraum verteidigen wird. Ebenso sicher wird es – trotz aller Aufrufe, die europäischen Kräfte zu bündeln – immer rivalisierende Vorstellungen vor allem der großen Player wie Frankreich oder Deutschland über diese Zukunft geben.
So favorisiert die deutsche Seite die Kooperation mit den USA in Sachen ATV und Orion und damit auch die Möglichkeit, den erdnahen Orbit zu verlassen. Die Franzosen hingegen würden ATV eher als eine Art System zur Wartung von freifliegenden autonomen Plattformen und Habitaten in einer erdnahen Umlaufbahn einsetzen – was zu dem von DLR-Chef Wörner skizzierten möglichen Nachfolge-System der ISS passen würde: frei im All fliegende und nur teilweise bemannte Forschungsplattformen.
Neben der Weiterentwicklung seiner Infrastruktur im Weltraum wird Europa – in Kooperation mit anderen Nationen – aber auch versuchen, immer neue wissenschaftliche Missionen zu Mond, Mars und in den tiefen Weltraum zu unternehmen.
„Wir werden das eine machen, ohne das andere zu lassen“, so Dudok. Noch dienen diese Mond- und Mars-Missionen vor allem der Befriedigung wissenschaftlicher Neugierde. Sie können aber „in Zukunft auch die Grundlage für bemannte Missionen sein“, hofft Wörner. „Der Mensch hat sich in der Erdumlaufbahn festgesetzt, der nächste Schritt könnte über den Mond weiter hinaus ins All führen.“ W. MOCK
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