Dunkle Materie: Entdeckung stellt Annahmen über das Universum infrage
Forscher haben festgestellt: In unseren bisherigen Annahmen über Dunkle Materie und das Universum fehlt etwas Grundlegendes.
„Ich weiß, dass ich nichts weiß“ – diese Erkenntnis, die man als Zitat gerne Sokrates andichtet, beschreibt ein Phänomen, das nicht nur Wissenschaftler immer wieder erleben. Je mehr man über eine Sache herausfindet, desto mehr unbekannte Größen scheint man zu entdecken.
So ging es jetzt einem internationalen Team von Wissenschaftlern aus den USA und Italien, das mithilfe von Beobachtungen des Hubble-Weltraumteleskops der Nasa und der Esa und des Very Large Telescope (VLT) des European Southern Observatory (Eso) festgestellt hat: In unseren Theorien zur Dunklen Materie und unserer Sicht auf das Universum fehlt offenbar etwas Grundlegendes.
Dunkle Materie: „Es gibt ein Merkmal des Universums, das wir nicht erfassen“
Oder wie Priyamvada Natarajan von der Yale University in Connecticut es ausdrückt: „Es gibt ein Merkmal des realen Universums, das wir in unseren aktuellen theoretischen Modellen einfach nicht erfassen.“
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Dieser fehlende Bestandteil könnte erklären, warum Forscher eine unerwartete Diskrepanz zwischen Beobachtungen der Konzentrationen dunkler Materie in massereichen Galaxienhaufen und theoretischen Computersimulationen darüber, wie dunkle Materie in Clustern eigentlich verteilt sein sollte, entdeckt haben.
Dunkle Materie gleichmäßiger verteilt als gedacht
Bereits vor einigen Monaten hatte die internationale Forschergruppe Kilo-Degree Survey (KiDS) festgestellt, dass die Materie im Universum wahrscheinlich gleichmäßiger verteilt ist, als gedacht. Das betrifft sowohl die mysteriöse Dunkle Materie als auch alles Sichtbare. Diese Entdeckung kommt einer Sensation gleich, weil sie unser bisheriges Weltbild durcheinanderwirbeln könnte. „Wir waren uns selbstkritisch sicher, dass der Fehler in unseren Messungen liegt“, sagte damals Kosmologe Hendrik Hildebrandt von der Ruhr-Uni Bochum im Gespräch mit INGENIEUR.de. Doch die Messungen erwiesen sich als höchstwahrscheinlich korrekt.
Die neuen Ergebnisse vom Hubble-Teleskops zeigen, dass einige kleine Konzentrationen dunkler Materie Linseneffekte hervorrufen, die zehnmal stärker sind als erwartet. Dunkle Materie macht den größten Teil der Masse einer Galaxie aus und bildet die Grundlage für die Struktur des Universums. Was genau die mysteriöse Substanz ist, weiß die Forschung nicht. Da dunkle Materie kein Licht emittiert, absorbiert oder reflektiert, ist ihre Anwesenheit nur durch ihre Anziehungskraft auf sichtbare Materie im Raum messbar. Dieser Effekt betrifft auch das Licht: Es wird abgelenkt. Weit entfernte Galaxien wirken so leicht verzerrt, wenn ihr Licht auf dem Weg zur Erde an Materie beziehungsweise Dunkler Materie vorbeikommt.
Galaxienhaufen sind „ideale Laboratorien“
Diesen sogenannten Gravitationslinseneffekt machen sich Wissenschaftler bei der Erforschung von dunkler Materie zunutze. „Galaxienhaufen sind ideale Laboratorien, um zu untersuchen, ob die aktuellen Simulationen des Universums gut reproduzieren, was wir aus Gravitationslinsen ableiten können“, sagte Massimo Meneghetti vom Inaf-Observatorium für Astrophysik und Weltraumforschung in Bologna in Italien.
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„Wir haben viele Tests der Daten in dieser Studie durchgeführt, und wir sind sicher, dass diese Nichtübereinstimmung darauf hinweist, dass ein physikalischer Bestandteil entweder in den Simulationen oder in unserem Verständnis der Natur der dunklen Materie fehlt“, fügte Meneghetti hinzu.
Hubble-Bilder lieferten Überraschung
Je höher die Konzentration von dunkler Materie in einem Galaxiencluster ist, desto deutlicher ist ihre Lichtbiegewirkung, also der Gravitationslinseneffekt. Das Vorhandensein kleinerer Klumpen dunkler Materie in Verbindung mit einzelnen Clustergalaxien erhöht das Ausmaß der Verzerrungen. In gewissem Sinne fungiert der Galaxienhaufen als großflächige Linse, in die viele kleinere Linsen eingebettet sind.
Zur Überraschung des Teams enthüllten die Hubble-Bilder neben den dramatischen Lichtbögen und verzerrten Galaxien, die durch die Gravitationslinsen jedes Clusters erzeugt wurden, auch eine unerwartete Zahl kleinerer Bögen und verzerrter Bilder, die in der Nähe des Kerns jedes Clusters ihren Ursprung haben, wo die massereichsten Galaxien zu finden sind.
Synergien aus Hubble-Bildern und VLT-Spektroskopie
Die Forscher glauben, dass diese gewissermaßen verschachtelten Linsen durch die Schwerkraft dichter Materiekonzentrationen in den einzelnen Clustergalaxien erzeugt werden. Mithilfe des VLT konnten die Wissenschaftler wiederum spektroskopische Beobachtungen machen und die Geschwindigkeit der Sterne in den Clustergalaxien bestimmen. „Die Daten von Hubble und dem VLT lieferten hervorragende Synergien“, so Teammitglied Piero Rosati von der Università degli Studi di Ferrara in Italien. „Wir konnten die Galaxien jedem Cluster zuordnen und ihre Entfernungen abschätzen.“
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„Die Geschwindigkeit der Sterne gab uns eine Schätzung der Masse jeder einzelnen Galaxie, einschließlich der Menge an dunkler Materie“, fügte Teammitglied Pietro Bergamini vom INAF-Observatorium für Astrophysik und Weltraumforschung im italienischen Bologna hinzu.
Durch die Kombination der Hubble-Bilder und der VLT-Spektroskopie konnten die Astronomen Dutzende von mehrfach abgebildeten Hintergrundgalaxien mit Linsen identifizieren und eine gut kalibrierte, hochauflösende Karte der Massenverteilung der Dunklen Materie in jedem Cluster erstellen.
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Universum hat sich seit dem Urknall anders entwickelt als gedacht
Beim Vergleich der Karten mit Simulationen der Verteilung Dunkler Materie im All stellte das Team fest: Die Cluster im Computermodell zeigten auf den kleinsten Skalen – den Skalen, die mit einzelnen Clustergalaxien assoziiert sind – nicht die gleiche Konzentration der Dunklen Materie.
Irgendetwas fehlt also noch an den bisherigen Erkenntnissen über Dunkle Materie. Auch die Messwerte von Hildebrandt und seinem Team, das 31 Millionen Galaxienhaufen untersucht hat, weichen deutlich von den Vorhersagen über die Verteilung von Dunkler Materie seit dem Urknall ab. Demnach ist die Materie um etwa 10 % gleichmäßiger verteilt, als vom Standardmodell der Kosmologie vorhergesagt. Das bedeutet, dass sich das Universum vielleicht anders entwickelt hat, als angenommen.
„Ergebnis bedarf einer Erklärung“
Die neuen Ergebnisse aus den USA und Italien seien mit den KiDS-Ergebnissen verwandt, so Hendrik Hildebrandt jetzt gegen INGENIEUR.de. „Während wir den schwachen Gravitationslinseneffekt bemühen, wird hier aber der starke Gravitationslinseneffekt verwendet. Das Ergebnis der neuen Studie ist sehr interessant und überraschend und bedarf einer Erklärung.“
Es habe aber erst einmal nicht direkt mit dem Ergebnis der KiDS-Studie zu tun, da trotz der verwandten Methode recht unterschiedliche Dinge gemessen worden seien. „Während unsere Studie die Materieverteilung auf großen, kosmologischen Skalen misst, wird hier der starke Gravitationslinseneffekt benutzt, um viel kleinere Strukturen in einzelnen Galaxienhaufen aufzulösen.“
Beide Ergebnisse zeigen aber: Bisherige Theorien der Astronomie müssen überdacht werden. Ob und wie genau sie angepasst werden könnten, ist noch unklar. Weitere Forschungen sollen dazu Erkenntnisse liefern.
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