Dunkle Materie: Verblüffende Entdeckung könnte unser Weltbild ändern
Ein internationales Forscherteam hat 31 Millionen Galaxien beobachtet. Ihre Auswertungen könnten unser gesamtes Weltbild auf den Kopf stellen.
Die Entdeckung war so verblüffend, dass Hendrik Hildebrandt erst einmal an sich selbst zweifelte. „Wir waren uns selbstkritisch sicher, dass der Fehler in unseren Messungen liegt“, erzählt er.
Hildebrandt ist Kosmologe an der Ruhr-Uni Bochum und Teil der internationalen Forschergruppe Kilo-Degree Survey (KiDS). Er und seine Kollegen aus den Niederlanden und Großbritannien haben festgestellt: Die Materie im Universum ist wahrscheinlich gleichmäßiger verteilt, als gedacht. Das betrifft sowohl die mysteriöse Dunkle Materie als auch das Sichtbare. Die Entdeckung hat das Zeug zu einer Sensation, denn sie dürfte unser bisheriges Weltbild zumindest arg durcheinanderwirbeln.
Kurz nach dem Urknall: Die älteste Strahlung des Universums
Um das zu verstehen, muss man zum Anfang zurück. Also wirklich bis ganz zum Anfang. Vor knapp 14 Milliarden Jahren war das Universum eine „heiße Suppe“, wie Hildebrandt sagt. Die Materie war sehr homogen verteilt und beim Abkühlen bildeten sich nach und nach Atome. Von dieser Zeit, 380.000 Jahre nach dem Urknall, haben wir ein ungefähres Bild: Dank der sogenannten Mikrowellenhintergrundstrahlung, der ältesten Strahlung des Universums. Kurz gesagt entstand die kosmische Strahlung zu dem Zeitpunkt, als Lichtteilchen in der sich abkühlenden „Ursuppe“ erstmals die Möglichkeit hatten, sich frei auszubreiten.
Die Materie verklumpte in den nächsten Jahrmillionen zunehmend, es bildeten sich Planeten und Galaxien. Astronomen haben anhand der Hintergrundstrahlung und mithilfe des sogenannten Standardmodells der Kosmologie – eine Art Rechenmodell – Voraussagen darüber getroffen, wie die Materie heute im All verteilt sein müsste. Doch die Messwerte von Hildebrandt und seinem Team weichen davon deutlich ab. Demnach ist die Materie um etwa 10 % gleichmäßiger verteilt, als vom Standardmodell der Kosmologie vorhergesagt. Das bedeutet, dass sich das Universum vielleicht anders entwickelt hat, als angenommen.
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Forscher untersuchen 31 Millionen Galaxien
Anhand von 31 Millionen Galaxie hat die Forschergruppe eine Art Karte der Materieverteilung im Universum erstellt. Weil das Universum zum größten Teil aus nicht sichtbarer Dunkler Materie besteht, lassen sich Materieklumpen nicht einfach mithilfe etwa von Teleskopen beobachten. Doch es gibt einen Trick: den Gravitationslinseneffekt. Licht, das sich durch den Raum zur Erde bewegt, wird durch Masse abgelenkt. Weit entfernte Galaxien erscheinen also verzerrt, wenn das von ihnen ausgestrahlte Licht Materie passiert.
Dunkle Materie wird auch deshalb postuliert, weil im Grunde nur so die Bewegung von Sternen um das Zentrum von Galaxien erklärt werden kann. Die Bewegung der Sterne um das Zentrum unserer Milchstraße zum Beispiel müsste sich rein rechnerisch ganz anders verhalten, als sie das tatsächlich tut. So nimmt die Rotationsgeschwindigkeit von Sternes entgegen allen theoretischen Erwartungen (wenn man nur von der Existenz sichtbarer Materie ausgeht) zu, je weiter sie von ihrem Zentrum entfernt sind.
Was Dunkle Massen letztlich sind, ist unklar. Klar ist wohl: Die Materie nimmt nicht an der elektromagnetischen Wechselwirkung teil, die Massen haben keine Ladungen, reflektieren kein Licht und stoßen nicht mit sichtbarer Materie zusammen.
Henrik Hildebrandt erklärt es so: „Stellen Sie sich ein mit Wasser gefülltes Weinglas vor. Wenn Sie da hindurchsehen, ist alles, was dahinterliegt verzerrt.“ So ein Weinglas ist also eine eher schlechte Linse.
„Die Natur war so nett, uns mit der Gravitationslinse ebenfalls eine schlechte Linse zu geben“, so Hildebrandt.
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Dunkle Materie: „Optische Fehler“ machen sie erst auffindbar
Denn anhand der „optischen Fehler“ können die Kosmologen feststellen, wo sich Dunkle Materie befindet. Nur so können sie überhaupt Aussagen über die Verteilung von Dunkler und sichtbarer Materie im All machen. Weil die Verzerrungen, sogenannte Scherungen, nur geringfügig sind, mussten die Forscher besonders viele Galaxien betrachten, um Tendenzen feststellen zu können. Insgesamt 31 Millionen Galaxien hat das Team ausgewertet.
Das Ergebnis der Forschergruppe offenbart nicht die erste Unstimmigkeit des Standardmodells. Auch die sogenannte Hubble-Konstante, die die Expansionsrate des Universums in der Gleichung repräsentiert, passt nicht zu den Vorhersagen des Modells. „Diese Diskrepanzen könnten natürlich von systematischen Messfehlern hervorgerufen werden“, sagt Catherine Heymans von der University of Edinburgh, die zusammen mit Hendrik Hildebrandt das German Centre for Cosmological Lensing an der Ruhr-Uni Bochum leitet. „Aber die Messungen werden immer genauer, sodass das immer unwahrscheinlicher wird“, so Heymans.
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Einstein: Allgemeine Relativitätstheorie ersetzen?
Tatsächlich habe es durchaus auch Zweifel von Kollegen gegeben, erzählt Hildebrandt – verständlich angesichts der Tatsache, dass ein lange etabliertes Modell infrage gestellt wird. Doch die Wahrscheinlichkeit für Messfehler werde in der Tat immer geringer. Letztlich sei genau das ja auch der Ansporn: „Wir wollen ein etabliertes Modell genauestens überprüfen. Auch wenn das bedeutet, das wir es zu Fall bringen.“
In den nächsten Jahren wollen die Forscher weitere Beobachtungen machen, um ihre eigenen Ergebnisse zu prüfen. Ob das Standardmodell letztendlich durch eine komplett neue Theorie abgelöst werden muss, zum Beispiel indem Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie ersetzt wird, könne man jetzt noch nicht abschätzen. „Es gibt viele Theorien, die versuchen, die Messungen mit neuer Physik zu erklären“, sagt Hendrik Hildebrandt. „Als beobachtender Kosmologe versucht man, dabei unparteiisch zu bleiben und die Messungen ohne theoretische Vorurteile so genau wie möglich zu machen.“
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