Auf neuen Wegen durch das Patentdickicht
Neu oder nicht neu? Dieser Frage stellen sich Erfinder und Patentprüfer immer öfter. Denn die rasante technische Entwicklung verursacht eine Flut an Patentliteratur – weltweit. Die Intelligenz der Masse und neue Tools sollen helfen, den Überblick zu behalten.
Der Umfang der weltweiten Patentliteratur wächst rasant. Sie besteht aus der Gesamtheit der offengelegten Patentanmeldungen und -schriften sowie aller Gebrauchsmusterdokumente. Sie ist ganz sicher keine seichte Lektüre, erfreut sich aber trotzdem wachsender Beliebtheit. Das hat einen Grund: Mit den Texten können etwaige Verletzung eigener Schutzrechte überwacht oder „störende“ Patente der Konkurrenz auf ihre Gültigkeit überprüft werden. Dementsprechend steigt der Bedarf an Recherchedienstleistungen.
Patentprüfer und -anwälte sind aber längst nicht mehr in der Lage, alle einschlägigen Dokumente aufzufinden und auszuwerten. Eine Folge: Immer häufiger werden Patente zu Unrecht erteilt bzw. aufrechterhalten.
„Diese Entwicklung verkehrt die eigentliche Funktion des Patentsystems – die Förderung von Innovationen – inzwischen teilweise in ihr Gegenteil und verhindert in wachsendem Maße die Entwicklung und Vermarktung innovativer Produkte“, beklagt der Berliner Patentanwalt Jan H. Stütz. Um hier gegenzusteuern, hat er die Rechercheplattform BluePatent gegründet.
BluePatent versteht sich als „Crowdsourcing-Plattform für Recherche-Dienstleistungen im Schutzrechtsbereich“. Das Portal ging im Mai 2011 online. Es setzt auf Social Media und das Prinzip „viele Augen sehen mehr als zwei“. Das Motto: „Qualität durch Quantität“.
Auf der BluePatent-Homepage werden Rechercheaufträge ausgeschrieben, in denen etwa Beweise dafür gesucht werden, dass Patente zu Unrecht erteilt oder Schutzrechte eines Unternehmens verletzt wurden. Den Rechercheuren stellt BluePatent ein eigens entwickeltes Online-Formular zur Verfügung, das es ihnen ermöglicht, die gefundenen Informationen systematisch mit der fraglichen Patentschrift abzugleichen. Patentspezifisches Fachwissen sei nicht nötig, versichern die Experten. An der Suche könnten sich auch technisch interessierte Laien beteiligen. Erfolgreiche Rechercheure werden für ihre Arbeit mit Prämien belohnt.
„Für Unternehmen bietet die webgestützte Schutzrechtsrecherche entscheidende Vorteile“, erklärt Petr Nemec, BluePatent-Geschäftsführer. Relevante Informationen können schließlich über den gesamten Globus verteilt sein und in unterschiedlichsten Sprachen vorliegen. Es sei deshalb nur konsequent, bei der Suche auf eine weltumspannende Online-Community zu setzen: „Auf diese Weise kommen die Auftraggeber an Informationen, die ihnen bei einer herkömmlichen Schutzrechtsrecherche eventuell verborgen bleiben würden.“
Denn die bei BluePatent registrierten Rechercheure seien ebenfalls über den gesamten Globus verteilt. „Sie sprechen die unterschiedlichsten Sprachen, kennen sich in den unterschiedlichsten Fachdisziplinen aus und haben Zugang zu Informationen, die über eine gewöhnliche Online-Recherche nicht auffindbar wären, wie z. B. zur lokalen Zeitung oder zu fremdsprachigen Fachzeitschriften.“
Das sei der entscheidende Mehrwert, den BluePatent seinen Kunden biete. „Mit seinem dezentralen Ansatz trifft BluePatent die Bedürfnisse der Wirtschaft: global, mehrsprachig und spezialisiert“, bescheinigt ein in der Werbebroschüre zitiertes Testimonial den Jungunternehmern.
Ist Crowdsourcing nun eine, wie es ein anderes Testimonial formulierte, „geniale Ergänzung zum Wissensmanagement im Schutzbereich“? Die Juroren der Aktion „Deutschland – Land der Ideen“ fanden die Geschäftsidee so überzeugend, dass sie BluePatent zum „Ausgewählten Ort 2012“ kürten.
Es gibt aber auch Kritik. Zu hören war sie beispielsweise im Rahmen des jüngsten „Patinfo“-Kolloquiums, einer jährlichen Veranstaltung der TU Ilmenau. Die dortigen Rechercheexperten äußerten Bedenken hinsichtlich Vertraulichkeit und Datensicherheit und bezweifelten, dass sich genug Rechercheure finden ließen – wer sei schon bereit, Zeit zu investieren, in der vagen Aussicht, eine Prämie zu erhalten.
Einige der Kritiker setzen eher auf effizientere Recherche-Tools. In Ilmenau vorgestellt wurde beispielsweise eine neue numerische Suchfunktion, entwickelt vom Fachinformationszentrum Karlsruhe (FIZ) und dem Leibniz-Institut für Informationsinfrastruktur. Mit ihr sollen auch verklausulierte Patentschriften automatisch aufgefunden werden. Hintergrund: Damit ihre Erfindungen zwar geschützt aber gleichzeitig unbekannt bleiben, verstecken viele Patenteinreicher ihre Geistesblitze hinter einem Vorhang aus ungewöhnlichen Worten und Satzbausteinen. Zahlen hingegen lassen sich nicht tarnen oder verklausulieren.
Numerische Angaben spielen insbesondere in Patenten, die zur Definition des Schutzbereiches chemische und physikalische Eigenschaften verwenden, eine Schlüsselrolle. Mit dem neuen Werkzeug lassen sich etwa die Wellenlänge von LED-Lampen, Partikelgrößen, Reaktionsbedingungen bei chemischen Verfahren und viele andere Maße und Messergebnisse schneller, leichter und präziser herausfiltern. Mit der Eingabe Becquerel (Bq) lässt sich nach der Erwähnung radioaktiver Substanzen suchen, mit Messwerten in Pascal oder Bar nach Veröffentlichungen zur Vakuumtechnik.
Berücksichtigt werden rund 1800 Schreibvarianten. Beim Suchauftrag „Meter“ erkennt das Programm auch die entsprechenden Angaben in Zoll und Inches, bei der Eingabe von „Grad Celsius“ auch die Temperaturangaben in Fahrenheit, usw. Eine weitere Verfeinerung ermöglicht das ganz neue Feature der Intervallsuche: Während bei der normalen Stichwortsuche nach Temperaturen „zwischen -255°C und -245°C“ die Textstelle „from -260°C to -235°C“ unentdeckt bleibt, werden bei numerischer Suche und der Suchstrategie „255+-5°C“ bzw. „18-28 Kelvin“ die relevanten Dokumente angezeigt.
Um derartig komplexe Anforderungen zu bewältigen, musste neben der semantischen Erschließung ein besonderer Analysealgorithmus geschaffen werden, der gewährleistet, dass Zahlen, die chemisch-physikalische Eigenschaften, Messwerte und Maßangaben ausdrücken, als solche erkannt und extrahiert, Seitenzahlen und Gliederungsziffern hingegen ignoriert werden.
Die neue Suchfunktion hat bereits Erfolg: Sie wurde in Thomson Reuters‘ Derwent World Patents Index (DWPI), eine der größten kommerziellen Patentdatenbanken der Welt, implementiert. A. SCHNELLER/sta
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