Avantgarde-Architektur in Norddeutschland
Museen zeigen nicht nur Ausstellungen, sie sind auch als Architekturobjekte interessant. Sechs Häuser haben sich deshalb für eine Architekturroute zusammengeschlossen: das Felix-Nussbaum-Haus (Osnabrück), die Kunsthalle Bielefeld, Marta in Herford, das Phaeno in Wolfsburg, das Jüdische Museum Berlin und das Deutsche Historische Museum in Berlin. VDI nachrichten, Hannover, 26. 3. 10, has
Gemeinsam ist den thematisch höchst unterschiedlich ausgerichteten Häusern, dass sie von weltbekannten Architekten – Daniel Libeskind, Philip Johnson, Frank Gehry, Zaha Hadid und Ieoh Ming Pei – entworfen wurden und charakteristische Wechselbeziehungen von Form, Funktion und Inhalt aufweisen.
Anstoß für die Ende 2009 begonnene gemeinsame Vermarktung war die wachsende Zahl von Besuchern, die sich stark für die besondere Architektur des jeweiligen Hauses interessierte. Alle sechs bieten inzwischen Führungen speziell für die Zielgruppe „Architektur-Touristen“ an. Im Wolfsburger Phaeno wurden 2009 allein bei den anderthalbstündigen Spezialführungen für Gruppen rund 1000 Teilnehmer gezählt. Dazu kommen unzählige Einzelbesucher, die die am Wochenende veranstalteten halbstündigen „kleinen“ Führungen absolvierten. Beide Touren würden stark nachgefragt, erklärt Phaeno-Direktor Wolfgang Guthardt, „insbesondere seit wir im Dezember 2009 mit der Architekturroute ¿auf den Markt“ gegangen sind. Die Resonanz ist durchweg positiv – die Teilnehmer sind dankbar für Hintergrundinformationen“.
Zaha Hadids avantgardistischer Entwurf für das 2005 fertiggestellte Phaeno schrieb schon beim Bau Technikgeschichte. Es ist der bislang größte, in selbstverdichtendem Beton ausgeführte Bau in Europa. 1400 zumeist individuell hergestellte Schalungselemente wurden dazu benötigt, insgesamt 79 Mio. € wurden investiert. Zehn trichterförmige Kegelfüße tragen den futuristischen Baukörper. In dessen Innerem, in 7 m Höhe, werden diese Kegel zu Kratern. Sie sind Bestandteile der Experimentierlandschaft mit etwa 300 Stationen. Eine museumstypische lineare Führung gibt es im Phaeno nicht, jeder Besucher bahnt sich seinen eigenen Weg.
Das 1998 eröffnete, von Daniel Libeskind entworfene Felix Nussbaum-Haus besitzt die weltweit größte Sammlung des in Osnabrück geborenen Malers, der 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Libeskinds Konzept bestand darin, Leben und Werk Nussbaums zu „verräumlichen“. Drei Baukörper – Nussbaum-Haus (Holz), Nussbaum-Gang (Beton) und Brücke (Zink) – stehen für die Lebensabschnitte des Malers: von der behüteten Jugend über die Zeit der Vertreibung und Bedrohung bis zum gewaltsamen Tod in Auschwitz. Die Materialien sollen die zunehmende Kälte auf seinem Lebensweg ausdrücken. Im Inneren des Gebäudekomplexes erzeugen leicht ansteigende oder abfallende Fußböden, schräge Wände, schiefe Fenster und teilweise transparente Geschossdecken permanente Irritation und eine Atmosphäre allgegenwärtiger Unsicherheit.
Libeskinds Bau des Jüdischen Museums in Berlin ist zu einem Wahrzeichen der Stadt geworden. „Between the Lines“ nannte der Architekt sein Konzept, das mittels zweier Linien das Spannungsfeld der deutsch-jüdischen Geschichte aufreißt. Die erste bildet den mehrfach geknickten Grundriss des Museumsbaus sie verleiht ihm seine charakteristische Zickzackform. Die zweite Linie verläuft gerade und durchstößt das gesamte Gebäude. An den Schnittpunkten dieser Linien befinden sich „voids“ – Leerstellen. Sie sollen die Leere, die durch die Vertreibung und Ermordung der Juden in Deutschland entstand, symbolisieren.
Beim Deutschen Historischen Museum in Berlin stand der chinesisch-amerikanische Architekt Ieoh Ming Pei vor der Aufgabe, das über 300 Jahre alte Zeughaus um eine Ausstellungshalle zu erweitern, also historische Bausubstanz mit zeitgenössischer Gestaltung zu verbinden. Pei löste diese Aufgabe mittels eines Glasfoyers in gleicher Höhe wie der Barockbau, aus dessen geschwungener Fassade ein gläserner, spindelförmiger Treppenturm heraustritt. Seine Beinamen „Magier des Raumes“ und „Meister des Lichts“ rechtfertigte Pei durch das architektonische Programm seines Entwurfs. Es besteht aus Transparenz, Licht und Bewegung: Tagsüber spiegeln sich in der Glaswand die Fassaden der umliegenden historischen Bauten wider, zugleich ermöglicht sie, von außen die Besucherbewegung im Haus wahrzunehmen, und in der Dunkelheit markiert sie einen leuchtenden Anziehungspunkt.
Mit dem Museum Marta in Herford schuf Frank O. Gehry eine einzigartige Verbindung aus Museum, Kompetenzzentrum und Veranstaltungsforum. Im Namen Marta steckt dessen Konzept: „M“ steht für Möbel, „art“ für Kunst (des 21. Jahrhunderts) und „a“ für Architektur, Ambiente und aktuelle Tendenzen im Design.
Der asymmetrische Bau, eine Komposition aus konvexen und konkaven Bauteilen, besteht aus einem 22 m hohen Dom und vier Galerien unterschiedlicher Höhe. Er ist mit den für die Region Ostwestfalen-Lippe typischen Ziegelsteinen verblendet, sein wellenförmiges Edelstahldach nimmt sowohl die Fließbewegung des Verkehrs auf der Straße vor dem Museum als auch den geschwungenen Lauf des hinter dem Museum verlaufenden Flusses Aa auf. Oberlichter sorgen für „sehr mildes, natürliches Licht – das schafft eine ganz kontemplative Atmosphäre“, findet Marta-Sprecherin Karin Barth.
Die 1966-1968 im „internationalen Stil“ errichtete Kunsthalle in Bielefeld ist der einzige europäische Museumsbau des Amerikaners Philip Johnson (1906-2005). Sein Credo war, dem jeweiligen Gebäude eine unverwechselbare Identität zu verleihen. Das würfelförmige Gebäude aus rotem Mainsandstein, in dem vorwiegend Kunst aus dem 20. und 21. Jahrhundert gezeigt wird, wurde zum Wahrzeichen der Stadt. Glasfronten und asymmetrisch angeordnete Pfeiler lockern die Fassade auf, nachts wird der Bau kunstvoll beleuchtet. Einen Kontrast zu dem kantigen Kubus bildet der angrenzende Skulpturenpark mit seinen sanft geschwungenen Wegen. 2008, zum 40. Geburtstag der Kunsthalle, wurde er „renoviert“ und nach den Originalplänen Philip Johnsons umgestaltet.
ANNE SCHNELLER
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