Das Eis der Polkappen als gigantisches Klimaarchiv
So langsam kommt der Sommer, doch für manche Wissenschaftler ist – zumindest was ihre Arbeit angeht – immer tiefster Winter: Im Eislabor des Alfred-Wegener-Institutes (AWI) in Bremerhaven untersuchen sie Eisproben aus Arktis und Antarktis – immer auf der Suche nach neuen Einblicken in die Klimageschichte.
So nahe beieinander sie auch liegen, unterschiedlicher könnten zwei Arbeitsplätze kaum sein. Doktorandin Stefanie Weißbach arbeitet mit einer elektrischen Stichsäge, die das Herz jeden Tischlers erfreuen würde. Auch die Werkbank ist eher was fürs Grobe. Im Raum nebenan dagegen bedient der Physiker Johannes Freitag ein Präzisionsinstrument vom Feinsten: Der „Mikrofocus-Computertomograf“ kann Röntgenbilder mit einer Auflösung von 15 millionstel Meter anfertigen. Damit selbst die kleinste Erschütterung das Bild nicht verwackeln kann, ruht die Apparatur auf einem 10 t schweren Granitblock, zusätzlich sind alle beweglichen Teile luftgelagert.
Arbeit bei bis zu minus 20 Grad Celsius
Verbindendes Element beider Arbeitsplätze ist die Kälte. Stefanie Weißbach und Johannes Freitag arbeiten bei Temperaturen zwischen –13°C und –20°C. Im Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung, das mit seiner auffälligen Architektur an ein mitten in Bremerhaven auf Grund gelaufenes Schiff erinnert, gehören die beiden zu einem Team von Experten, die sogenannte Eiskerne untersuchen. Ein Großteil dieser meist milchig schimmernden, 1 m langen Bohrkerne mit ihren grauen Einschlüssen wurden bei internationalen Bohrungsprojekten in der Antarktis und auf Grönland gewonnen. Daneben untersuchen die AWI-Forscher auch Kerne aus anderen Bohrungen.
Im Eislabor müssen sich immer mindestens zwei Personen aufhalten
Dass es sich bei dem Eislabor des AWI um kein normales Labor handelt, wird schnell klar. In den Büros und Laborräumen hängen dicke Daunenjacken, manche Räume sind mit 20 cm dicken Türen verschlossen. Am Zugang zum „Ice Core Processing Lab“ – der Werkstatt, in der Stefanie Weißbach arbeitet – warnt ein gelbes Schild: „Aus Sicherheitsgründen ist Einzelpersonen der Aufenthalt im Tiefkühlraum verboten!“ Trotz der schweren Schutzkleidung wäre es lebensgefährlich, wenn hier jemand unbemerkt zusammenbräche und hilflos in der Kälte liegen bliebe.
Der Raum, in dem der Computertomograf steht, ist zudem noch mit Bleiwänden isoliert und fensterlos. Der Grund ist die extreme Strahlung des Tomografen – auch die Tür lässt sich nur öffnen, wenn das Gerät ausgeschaltet ist.
Kleine Luftbläschen als Geschichtsträger
„In Eisbohrkernen aus der Antarktis stecken 800 000 Jahre Klimageschichte“, sagt die Glaziologin Anna Wegner, die ebenfalls zum Team des Eislabors gehört. Fast muss sie sich ein wenig ducken, die Decke in den Kälteräumen ist wegen der dicken Isolierung niedrig.
Zeugnisse dieser Geschichte finden sich in kleinen Luftbläschen, die in dem Eis eingeschlossen sind. Die extreme Kälte auf dem eisigen Kontinent macht es möglich: „Der frisch gefallene Schnee schmilzt dort nicht“, erläutert Wegner, er lagert sich ab. Zunächst ein paar hundert Jahre als Firn, dann presst die wachsende Eisschicht die Kristalle immer stärker zusammen: „Die ersten gut 500 bis 1000 Jahre kann die Luft in dieser Masse noch zirkulieren, danach wird sie in winzige Bläschen eingeschlossen.“ Diese Einschlüsse und die im Eis enthaltenen Spurenelemente und Isotopen liefern Informationen über das Klima in früheren Erdzeitaltern „und damit wichtige Hinweise, um das System Klima zu verstehen und die Mechanismen des Klimawandels zu ergründen“, sagt die Glaziologin. So wird das Eis zu einem gigantischen Klimaarchiv.
Detaillierter Scan kann schon mal fünf Tage dauern
Der Physiker Freitag hat einen der eisigen Bohrkerne in eine dünne Röhre aus Carbonfaser gesteckt, senkrecht auf einen Drehteller gestellt und den Raum verlassen. Langsam rotiert die Stange, während sie vom Scannerkopf des Tomografen mit einem leisen Summen abgetastet wird. Am Bildschirm in seinem Büro nebenan verfolgt Freitag, wie sich Schicht für Schicht das Abbild der Struktur aufbaut.
Das Eis ist deutlich jüngeren Datums „Es ist Schnee und Firn aus den vergangenen 80 bis 100 Jahren“, erläutert der Physiker. Den Kern hat Freitag bei seinem jüngsten Aufenthalt in der Antarktis selbst auf einem Plateau in 3000 m Höhe erbohrt.
Der Scan, den er anfertigt, dient vor allem dem Verständnis, wie Schneekristalle sintern, sich zuerst einzelne Firn- und später dann Eisschichten ausbilden. „Bei dieser groben Auflösung ist eine Wiedergabe fast in Echtzeit möglich“. Das Bild erinnert an ein klassisches Röntgenbild von Knochen, mit bloßem Auge sind die Grautöne der verschiedenen Ablagerungen im Bohrkern zu erkennen.
Wer allerdings auf dem Röntgenbild eines Jahrtausende alten Kerns einzelne Luftbläschen finden will, muss Geduld haben „Ein detaillierter Scan kann schon mal fünf Tage dauern“, so Freitag.
Grund ist die Datenmenge, die der eigens für das AWI gefertigte Scanner liefert: „Für ein dreidimensionales Bild müssen etliche Gigabyte verarbeitet werden. Obwohl wir zehn Rechner zusammengeschaltet haben, dauert das einfach“, so Freitag. Diese Scans geben dafür aber ungewöhnlich tiefe und genaue Einblicke in die Eiskerne: Jeder Eiskristall, die Verteilung der Luft im Eis und selbst die individuelle Form einzelner Luftblasen sind auf den Bildern zu erkennen.
Eiskernbohrungen und Analysen sind immer internationale Gemeinschaftsprojekte
Damit die Wissenschaftler die winzigen Einschlüsse im Eis weiter analysieren können, muss der Bohrkern bearbeitet werden. Vorsichtig zieht Stefanie Weißbach die Eiskerne durch die Bandsäge – in vier Schritten wird aus dem ehemals runden Bohrkern eine 1 m langes Vierkantprofil.
Dieses wiederum wird nach bestimmten Vorgaben in verschieden starke Teilstücke geschnitten, die auch nicht alle am AWI untersucht werden: „Die Eiskernbohrungen und die anschließenden Analysen sind immer internationale Gemeinschaftsprojekte entsprechend bekommen die beteiligten Institute in den anderen Ländern Teile der Eiskerne“, sagt Wegner.
Damit die Forscher im In- und Ausland wissen, was sie untersuchen, steckt jede einzelne Eisprobe in einem beschrifteten Eisbeutel – mit Angaben zu Bohrort, Tiefe und Position der Probe im Bohrkern : „Es würde alles durcheinanderbringen, wenn wir ein Stück Bohrkern verkehrt herum einpackten.“ Immerhin können zwischen Anfang und Ende jedes einzelnen Bohrkerns viele hundert Jahre Erdgeschichte liegen.
Auf feinste Details achten
Für die Wissenschaftler sind ohnehin vor allem die langen Phasen der Klimageschichte interessant: „Wir wollen die großen Veränderungen, ihre Ursachen und die dahinter stehenden Mechanismen erkennen und verstehen“, betont Wegner.
Aber auch dafür müssen die Forscher auf feinste Details achten. Teile des Eises werden geschmolzen, in den winzigen Wasserproben suchen die Wissenschaftler nach Staubspuren, Vulkanasche und ähnlichen Rückständen, die Rückschlüsse auf die in der jeweiligen Zeit herrschenden Umwelteinflüsse wie z. B. Vulkanausbrüche oder Meteoriteneinschläge oder aber auch von Menschen verursachten Verschmutzungen wie Ruß erlauben. Bei der Gasanalyse der eingeschlossenen Luft geht es um die Konzentration von Kohlendioxid und Methan, die als Treibhausgase gelten. Über den Nachweis der Isotopie der Wassermoleküle des aufgeschmolzenen Eises sind sogar Rückschlüsse auf die durchschnittlichen Temperaturen in den Polarzonen zu den jeweiligen Epochen möglich.
„Um zu verstehen, wie der aktuelle Klimawandel abläuft und wodurch er im Detail beeinflusst wird, müssen wir vielmehr über die vergangenen Veränderungen wissen“, sagt Anna Wegner und zeigt auf die zentimeterdicke graue Schicht in einem der Bohrkerne: „Das muss ein Vulkanausbruch relativ nahe der Antarktis verursacht haben. Solche Spuren hinterlassen auch wir Menschen, etwa mit Beginn der Industrialisierung“, sagt Wegner
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