„Der Fußball muss im 21. Jahrhundert die Technikerfahrungen nutzen“
Wenn die Technik im Fußball Überhand gewinnt, verliert der Sport seine menschlichen Attribute, fürchten die einen. Wenn der Fußball auf die Technik, wie den Chip im Ball, verzichtet, wird es angesichts des immer schnelleren Spiels häufiger zu „ungerechten“ Entscheidungen kommen, heißt es andererseits. Markus Merk, dreimal „Weltschiedsrichter des Jahres“, wägt in seinem Gastbeitrag für die VDI nachrichten beide Ansichten gegeneinander ab.
Geoff Hurst schießt, der Ball prallt in der 101. Spielminute von der Unterkante der Latte auf den Boden. Der Schweizer Schiedsrichter Dienst berät sich mit seinem sowjetischen Linienrichter Bahramov. Ohne einer gemeinsamen Sprache mächtig zu sein, entscheiden sie auf „Tor“! Wir schreiben den 30. Juli 1966, das Tor zum 3:2 geht als das „Wembley-Tor“ in die Geschichte ein. England ist Fußballweltmeister, Deutschland bleibt nur der „Vize“-Titel.
Es gibt wenige Momente im Fußball, die den Fußballer mehr bewegen als Wembley 1966. Tor oder nicht Tor, diese Frage wäre heute leicht zu lösen. Der „Chip im Ball“ wird immer wieder, auch von den Kritikern der technischen Hilfsmittel, gefordert, er ist technisch ausgereift. Aber es sei darauf hingewiesen, dass der ärgerlichste aller Fehler, die Nichtanerkennung eines Tores, doch sehr selten vorkommt.
Der Fußballweltverband Fifa beugt dem Einsatz des „Chip im Ball“ vor. Denn: Elfmeter ja oder nein, Rot oder doch nur Gelb, war das Tor in seiner Entstehung korrekt oder irregulär, sind wesentlich häufiger vorkommende und ebenso „spielentscheidende“ Fehler. Man befürchtet eine Flut an technischen Hilfsmitteln. Kaum ein Thema wird mit jahrzehntelanger Tradition mehr diskutiert als der Einsatz technischer Hilfsmittel im Fußball und es polarisiert wie kaum ein Zweites.
Vorab: Fernseh-, Videobeweis, Oberschiedsrichter – ich spreche lieber von dem „Elektronischen Auge“ als Ergänzung zu der menschlichen Wahrnehmung. Ich habe nie den Einsatz der Technik im Fußball gefordert. Eine Diskussion über Ja oder Nein ist der falsche Ansatz, konzeptionelle Grundgedanken sollten im Vordergrund stehen. Das vermisse ich bei vielen selbst ernannten Experten. Zwei Sichtweisen stehen sich gegenüber und sind zu berücksichtigen:
1. Der Fußball lebt von seiner Emotionalität, der Geschwindigkeit und seinen wenigen Unterbrechungen, er ist schnell und muss schnell bleiben. Der „Spielfluss“ ist sein Charakteristikum, Unterbrechungen stören das Spiel. Dies zeichnet ihn aus, macht ihn erfolgreich und unterscheidet ihn von anderen Sportarten. Vergleiche mit anderen Sportarten, die technische Hilfsmittel teilweise erfolgreich nutzen, sind deshalb kritisch zu bewerten. Aber der Fußball kann nicht nur, er muss im 21. Jahrhundert diese Erfahrungen für sich nutzen.
2. Wembley war vorgestern, die Bilder haben im letzten Jahrzehnt mehr als laufen gelernt, Situationen können heute innerhalb einer Minute analysiert werden. Und es ist ein Spiel von Wirtschaftsunternehmen. Es geht um die „Big Points“, die klaren Entscheidungen. Wir werden immer über die „Sowohl-als-auch-Entscheidungen“ aus der Grauzone diskutieren. Das ist gut so. Kein Mensch kann doch wahrhaft daran interessiert sein, dass klare, vermeidbare Fehler ein Spiel entscheiden. Dies widerspricht dem Grundsatz des Sports, dem Grundsatz des Fairplay.
Die Thematik ist komplex, einzelne Spielsituationen sind zu analysieren: Wann und wie wird das Spiel unterbrochen, wo fortgesetzt, wer entscheidet über Entscheidungen aus der Grauzone usw.? Dies kann hier nur punktuell und ansatzweise erwähnt werden, wobei zu beachten ist: Bei jedem Konzept liegt die Wahrheit in der Praxis. Befasst man sich mit den Punkten der Gegner von technischen Hilfsmitteln, so stößt man vorrangig auf drei Kritikpunkte:
1. „Dann wird das Spiel wegen jedem Einwurf an der Mittellinie unterbrochen!“ Die Basis aller Grundgedanken muss dies einschränken. Mit der von mir vor Jahren propagierten „3mal2-Regel“, bei der die drei Teams (Mannschaften und Schiedsrichter) zweimal pro Spiel die Chance eines Vetorechts haben, wird dem vorbeugen. Es darf aber nie als taktisches Mittel missbraucht werden. So könnte eine Option, wenn nicht genutzt, ab der 80. Spielminute entfallen.
2. „Es gibt Fehler, die nicht korrigierbar sind!“ Natürlich, wenn der Assistent einem Spieler eine Torchance „wegwinkt“, dann gibt es dafür kein Regulativ. Aber so funktioniert es überall im Leben und das heißt doch nicht, dass, wenn ich von fünf Fehlern vier korrigieren könnte, ich diese vier nicht korrigiere, weil es bei dem fünften unmöglich ist.
3. „Es gleicht sich alles aus!“ Aristoteles sprach von der ausgleichenden Gerechtigkeit. Wenn überhaupt, handelt es sich um eine ausgleichende Ungerechtigkeit. Ein Fehler plus ein Fehler sind zwei Fehler. Spätestens in einem Finale gleicht sich nichts mehr aus. Oder fragen sie einmal den irischen Fußballfan: Wenn ein französischer Nationalspieler seiner Mannschaft mit einem Handspiel die Teilnahme an einer Weltmeisterschaft sichert, die armen Iren auf der grünen Insel bleiben, dann stellt sich die Frage: „Wann gleicht sich dies aus und wollen wir das wirklich?“
Ein zweiter Schiedsrichter, ein Torrichter, zusätzliche Assistenten fördern die menschlichen Fehler, produzieren weitere Schnittstellen in der menschlichen Wahrnehmung und sind halbherzig. Auch ich schätze „das menschliche Auge“, es bringt noch mehr Subjektivität ins Spiel.
Wenn ich nach Veränderungen strebe, dann mit zeitgerechten Hilfsmitteln, nach dem Prinzip „Ganz oder gar nicht“. Man muss nur bereit sein, sich positiv in der Praxis damit auseinanderzusetzen, ganz im eigentlichen Sinne der Fifa: „For the Good of the Games!“ oder vielleicht „For the Best and most Fair of the Games!“ MARKUS MERK
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