Die Chemiefabrik der Zukunft entsteht nach dem Lego-Prinzip
Die europäische Chemieindustrie will Chemikalien künftig mit deutlich weniger Energie und Rohstoffen herstellen. Dazu entwickelt sie gemeinsam mit Universitäten eine neue Technologieplattform – und sucht die breite Öffentlichkeit.
Im Chemiepark Leverkusen steht das Forschungszentrum „Invite“. „Die eine Hälfte des Zentrums ist für jeden zugänglich, die andere aus Sicherheitsgründen nur für Mitarbeiter“, erklärt Thomas Bieringer. Er ist Geschäftsführer des 50/50-Unternehmens von Bayer Technology Services (BTS) und der TU Dortmund. „Jeder soll sehen können, wie wir die Chemiefabrik der Zukunft entwickeln.“ Bieringer sagt voraus, dass alle Prozesse effizienter und viele Anlagen kleiner werden.
Hinter einer Glaswand ist das Gerüst eines Containers zu sehen. Er steht für einen Paradigmenwechsel in der Chemie. Denn bei Invite wird auch am EU-Forschungsprojekt „F3 factory“ gearbeitet. F3 steht für „fast, flexible and future“. Sieben europäische Chemiefirmen und etliche Forschungseinrichtungen wie die RWTH Aachen und die TU Dortmund entwickeln und testen eine neue Technologieplattform.
Chemie-Riesen ziehen an einem Strang
Neu ist vieles. Zum Beispiel, dass Wettbewerber wie BASF, Bayer und Evonik hier an einem Strang ziehen. Diese Kooperation empfänden alle als bereichernd, erklärt BTS-Mann Sigurd Buchholz, der das F3-Projekt koordiniert. „Hätte das jemand vor vier Jahren vorhergesagt, weiß ich nicht, ob ich das geglaubt hätte.“
Und alle haben das gleiche Ziel: Container als flexible Einheiten, mit denen sich Chemikalien ressourcenschonend herstellen und schnell auf den Markt bringen lassen.Im Fokus stehen Arzneiwirkstoffe und Spezialchemikalien. Solche Chemikalien stellen die Unternehmen seit Jahrzehnten diskontinuierlich her – also etwa in einem Kessel, der regelmäßig gereinigt und neu gefüllt werden muss.
Diese Herstellungsweise sei nicht immer modern, meint Buchholz. „Wir wollen hier das reinbringen, was wir in unseren großen Anlagen schon lange optimiert haben“ – die effiziente Nutzung von Energie und Rohstoffen durch kontinuierliche Herstellungsverfahren.
Standardcontainer sind die Bausteine der neuen Chemiefabrik
Der Clou: Die dafür benötigten Reaktoren, Kolben, Destillationsanlagen, Wärme- und Kühlaggregate sollen in Standardcontainern mit einer Länge von 20 Fuß (6,06 m) Platz finden.
„Auch alle Apparate und Anschlüsse werden standardisiert sein“, betont Bieringer. Die Steuerung wird ebenso einheitlich sein wie Pumpen, Sensoren, Füllstandmesser und würfelförmige Mikroreaktoren. In deren Innern werden die Chemikalien gut vermischt, um optimal miteinander reagieren zu können. Mit einem solchen Reaktor mit einer Seitenlänge von 5 cm können durchaus 20 t eines Produktes jährlich hergestellt werden. Für vielstufige Reaktionen lassen sich sogar mehrere Container hintereinander schalten.
„Chemiefabriken könnten künftig nach dem Baukastenprinzip gebaut werden“, erklärt Bieringer. Er spricht vom Lego-Prinzip: Die Container sind Lego-Platten, Apparate Lego-Steine. Und Firmen können alle Apparate – wie Lego-Steine – nach Bedarf kombinieren. Wichtig ist dabei, dass alle Firmen und Forschungseinrichtungen, die am F3-Projekt teilnehmen, auf Patente frei zugreifen können. Was aber welche Firma in ihren Containern herstellt, bleibt dann deren Geheimnis.
Neue Chemiefabriken sparen Energie- und Rohstoffkosten
Diese Container-Chemie hat ökonomische und ökologische Vorzüge. „Reagieren Chemikalien in kleinen statt in großen Apparaturen miteinander, können Investitions- und Betriebskosten sinken“, so Bieringer. So zeigen bereits mehr als 100 Experimente, dass sich der Energie- und Rohstoffbedarf um 30 % bis 50 % senken lässt – zum Teil sind Einsparungen noch höher. Bei einer Tieftemperaturreaktion kommt man bei gleicher Ausbeute mit 0,5 % des Reaktorvolumens aus – und muss deutlich weniger kühlen. Und: Die Container-Chemie scheint praxistauglich zu sein. BTS testet auf Firmengelände die zweistufige Synthese eines Medikamentes in einem zweiten Container.
Weil kleinere Apparate nötig sind, werden chemische Reaktionen zudem sicherer, ergänzt Bieringer. Entsteht bei einer Reaktion in einem großen Kessel viel Wärme, muss aufwendig gekühlt werden. Läuft die Reaktion aber kontinuierlich in dünnen Röhrchen oder Mikroreaktoren ab, sinkt der Kühlaufwand. Auch der Einsatz von Lösemitteln kann deutlich gesenkt werden.
Neue Produkte gelangen schneller auf den Markt
„Die neue Technologie wird auch helfen, neue chemische Produkte schneller auf den Markt zu bringen“, sagt Buchholz. Ein Beispiel: Oft braucht es viele Jahre, bevor eine neue chemische Synthese, die im Labor gut funktioniert, auch in einem großen Kessel optimal gesteuert werden kann. Finden aber die chemischen Prozesse weiterhin in kleinem Maßstab statt, bleiben also die physikalischen Strömungsverhältnisse letztlich die gleichen, könnte sich diese Zeit des In-den-Markt-Bringens halbieren.
Mit der Container-Chemie werde die europäische Chemieindustrie ihre Technologieführerschaft weltweit behaupten. Da sind sich Bieringer und Buchholz einig. Sie schätzen, dass rund ein Drittel aller neuen chemischen Verfahren in Containern stattfinden können.
Die Container bringen den Firmen auch Flexibilität. Sie lassen sich bei Bedarf schnell in Europa, Amerika, Asien oder auch Afrika aufbauen. Sie können also weltweit eingesetzt werden – in China und Indien genauso wie im Chemiepark Leverkusen. Dabei geht es nicht darum, etablierte chemische Verfahren etwa zur Herstellung von Massenchemikalien wie etwa Kunststoffen zu ersetzen. Denn diese Verfahren haben die Firmen bereits zum großen Teil energie- und rohstoffeffizient gestaltet, so Buchholz.
Noch steht der Paradigmenwechsel aber erst am Anfang, weiß Buchholz. „Wir wollen, dass die Vorzüge der kontinuierlichen Produktion auch verstärkt in der chemischen Ausbildung gelehrt werden.“ Im „F3 factory-Projekt“ wird daher auch ein Schulungskonzept für Fachleute aus der Industrie als auch für Dozenten an Hochschulen und Universitäten entwickelt.
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