Die Neandertaler schufen schon vor 40.000 Jahren abstrakte Symbole
Der Neandertaler war wohl doch nicht ganz so dumpf wie bislang vermutet. Archäologen haben jetzt in einer einst von Neandertalern bewohnten Höhle in Gibraltar ein absichtlich in Kalkstein geritztes abstraktes Zeichen gefunden. Ein Hinweis, dass der Neandertaler abstrakt denken konnte.
Erkenntnisgewinn ist im Forschungsfeld der Archäologie zumeist mit anstrengenden körperlichen Aktionen verbunden. Und so mussten auch die Forscher um Joaquín Rodríguez-Vidal von der Universität von Huelva die Haut eines Schweines mit Kalkstein so lange zerschneiden, bis sie sich sicher sein konnten: Das Kreuz auf der etwa 40 Zentimeter aus dem Boden der Gorham-Höhle in Gibraltar ragenden Plattform ist kein Zufallsprodukt.
Im Gegenteil: Die Gravur, bestehend aus 13 Linien, entstand mit voller Absicht. Die Sensation an dieser Erkenntnis: Es waren Neandertaler, die vor über 39.000 Jahren dieses Zeichen in den Stein gearbeitet haben. Die unterste Deckschicht über der jetzt gefundenen Gravur konnten die Archäologen mit geochemischen Analysen auf ein Alter von 39.000 Jahren datieren. Die in den Felsen gravierten Symbole müssen also älter sein. Zu dieser Zeit war der Homo Sapiens noch nicht in dieser Gegend angekommen, schreiben die Experten von der Universität Huelva.
Damit ist die These, dass nur der moderne Mensch, der Homo Sapiens, über abstraktes Denkvermögen verfügt, auf dem Schrottplatz der Forschungsgeschichte angelangt. Die direkt am Meer gelegene Gorham-Höhle gilt seit den 50er Jahren als langjährige Behausung von Neandertalern.
1989 begann man dort mit systematischen archäologischen Ausgrabungen. Die jetzt entdeckte Gravur war von einer Sedimentschicht bedeckt, in der zuvor bereits Spuren der Besiedelung durch Neandertaler entdeckt worden waren. Die dort gefundenen Werkzeuge werden der sogenannten Moustérien-Kultur und damit eindeutig dem Neandertaler zugeordnet.
Mineralische Härtung des Kalksteins
Ein geologischer Zufall sorgte dafür, dass die Felsgravuren besonders gut erhalten sind. Phosphor- und Manganionen aus der Deckschicht wanderten im Lauf der Jahre aus der Deckschicht in die oberste Schicht des Kalksteins. Und aus dem tiefen Kalkstein selbst gelangte Magnesium und Kalium an die Oberfläche. Diese chemische Begegnung in der obersten Kalksteinschicht sorgte für eine mineralische Härtung des Kalksteins.
Beim schweißtreibenden Bearbeiten der Schweinshäute mit den Kalksteinwerkzeugen aus der Moustérien-Kultur erzeugten die Forscher durchaus auch Rillen im Gestein. Aber diese waren deutlich flacher. Um Rillen mit derselben Tiefe wie die jetzt gefundene Gravur zu erzeugen, brauchten die Archäologen 54 ordentliche Schläge mit spitzen oder klingenförmigen Kalksteinen.
Mehrere Experimente bestätigten den Verdacht, dass die Gravur ein absichtlich erzeugtes abstraktes Symbol sein muss. Um es zu kopieren, musste das Team um Joaquín Rodríguez-Vidal zwischen 188 und 317 Schnitte in den Felsen ritzen. Viel zu viel für Zufall.
Die Gravur kann kein Zufall sein
„Daraus folgt, dass nicht ausschließlich der moderne Mensch die Fähigkeit besaß, abstrakt zu denken“, schreiben die Forscher daher im abschließenden Satz ihrer Studie, die sie jetzt im Fachmagazin Proceedings der US-amerikanischen Akademie der Wissenschaften („PNAS“) erschienen ist.
Die Forscher konnten auch die Art und Weise der Entstehung der Gravur rekonstruieren. Sie fanden heraus, dass die größten Querlinien im geometrischen Muster als erstes entstanden. Die Neandertaler ritzten diese von links nach rechts. Anders die vertikalen Linien. Diese zogen die Neandertaler von oben nach unten.
„Erdacht, um von seinem Neandertaler-Schöpfer gesehen zu werden“
Diese Art der Herstellung der Gravur zeigt: Es handelt sich um die erste direkt nachweisbare abstrakte Gravur in einem Felsen, die mit voller Absicht und technisch sorgfältig über einen längeren Zeitraum in fokussierter Arbeit erstellt wurde. Die Gravur ist eine Art von Dekoration, anders gesagt: Die Gravur ist Kunst. „Wir folgern, dass diese Gravuren ein absichtliches Muster darstellen, erdacht, um von seinem Neandertaler-Schöpfer gesehen zu werden und – unter Berücksichtigung seiner Größe und Lage – auch von den anderen in der Höhle“, schreibt das Forscherteam.
„Mich erstaunen die Neandertaler-Symbole nicht“, sagt der Frankfurter Paläoanthropologe Friedemann Schrenk. „Neandertaler begruben ihre Toten und betrieben Totenkult, also sind bei ihnen auch Anfänge symbolischen Denkens vorstellbar.“ Nicholas Conard, Prähistoriker aus Tübingen ist eher skeptisch: „Wenn Neandertaler symbolische Zeichen regelmäßig benutzt hätten, würde man so etwas öfter finden.“
Conard entdeckte die weltweit älteste Kunst
Die Stimme Conards hat Gewicht. Denn Nicholas John Conard war es, der im September 2008 bei Ausgrabungen in der Karsthöhle Hohler Fels am Südfuß der Schwäbischen Alb auf die weltweit älteste Kunst stieß.
Die von ihm entdeckte Venus vom Hohlefels ist eine etwa sechs Zentimeter hohe aus Mammut-Elfenbein geschnitzte Venusfigur, hergestellt vor etwa 35.000 bis 40.000 Jahren.
Sixtinische Kapelle der Steinzeit
Symbolische Darstellungen gelten als Meilensteine in der kognitiven Entwicklung der Menschheit, die bisher einzig dem Homo Sapiens zugetraut wurden. Die 32.000 bis 35.000 Jahre alten Felsmalereien in der französischen Chauvet-Höhle, erst vor 20 Jahren entdeckt, markierten bisher den Beginn des abstrakten Denkens. Sixtinische Kapelle der Steinzeit wird diese mit komplexen Jagdszenen dekorierte Höhle im Flusstal der Ardèche auch genannt.
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