Die Utopie des Solidarismus von Rudolf Diesel
Die Idee der Genossenschaft steht im Zentrum von Rudolf Diesels Utopie des Solidarismus. In so genannten Volkskassen wird Kapital gesammelt für Kredite an gemeinschaftliche Betriebe. Diese Betriebe sollen alle wichtigen Bedürfnisse decken. Im Solidarismus, so Diesels Utopie, fällt das Interesse des Einzelnen mit dem Interesse der Allgemeinheit zusammen.
Vor 100 Jahren, 1911, kam das endgültige Aus für die Dieselmotorenfabrik Augsburg, die 1898 gegründet worden war. Der Name Rudolf Diesel ist untrennbar mit Millionen von Motoren und einem Kraftstoff verbunden. Wenig bekannt ist hingegen, dass Diesel sich nicht nur technischen, sondern auch sozialen Fragen zuwandte. „Solidarismus. Natürliche wirtschaftliche Erlößung des Menschen“, lautete der Titel einer Schrift, die von „Rudolf Diesel, Ingenieur in München“ 1903 veröffentlicht wurde. Darin legt er das Konzept einer solidarischen Wirtschaft vor, bei der die ehemals abhängig Beschäftigten die Finanzierung, Produktion und Verteilung von Gütern selbst in die Hand nehmen.
„Ihr seid in Deutschland 50 Millionen Menschen, die von Gehalt, Lohn, Salär abhängen“, schreibt Diesel, und rechnet weiter vor: Wenn jeder einen Betrag von nur einem Pfennig pro Woche in eine „Volkskasse“ einzahlen würde, ergäbe dies ein Kapital von einer halben Million Mark pro Woche. Würde gar jeden Tag ein Pfennig beiseite gelegt, „so habt ihr pro Jahr 182 Millionen und in zehn Jahren schon zwei Milliarden Mark zu eurer wirtschaftlichen Erhöhung zur Verfügung“.
Solidarismus von Rudolf Diesel setzt Einzelinteresse mit Gesamtinteresse gleich
Dieses Sparverfahren ist die Grundlage für das Prinzip des Solidarismus, den Diesel als die „vollkommene Gleichsetzung des Einzelinteresses mit dem Gesamtinteresse“, „die freie Vereinbarung der Menschen zu gegenseitiger Gerechtigkeit durch Arbeit, Einigkeit und Liebe“ versteht: „Der Solidarismus ist die Sonne, welche gleichmäßig über alle scheinend, durch ihre milde Wärme und ihr glänzendes Licht die Menschheit aus ihrem Winterschlaf zur wirtschaftlichen Erlösung erwecken wird.“
Dreh- und Angelpunkt dieses Sonnenaufgangs ist die Gründung einer „Volkskasse“, in der die Millionen Pfennige zusammengeführt werden. Diese Volkskasse mit ihrem angesammelten Kapital dient als Kreditgeber und Bürge für gemeinschaftliche Betriebe der Kassenmitglieder, die Diesel als „Bienenstöcke“ bezeichnet: „Ebenso wie für Schuhe errichtet ihr unter dem Schutz der Haftung der Gesamtheit – der Volkskasse – noch andere Bienenstöcke für Kleider, Wäsche, Möbel, Hausgerät usw.“, die schließlich die wichtigsten Lebensbedürfnisse der Mitarbeiter, den „Bienen“ und anderer befrieden können.
Der Solidarismus von Rudolf Diesel setzt auf genossenschaftliche Selbsthilfe
Unschwer ist hier die Idee der genossenschaftlichen Selbsthilfe zu erkennen. Diesel erweiterte allerdings die Idee der genossenschaftlichen Finanzierung und Produktion durch die Hinzufügung von genossenschaftlicher Konsumtion: „Eure Bienenstöcke tauschen also ihre Waren aus; in jedem derselben entsteht auf diese Weise ein Tauschlager, dessen Waren den Bienen und deren Familienmitgliedern … zu den denkbar billigsten Preisen, da keinerlei Zwischenspesen darauf lasten“, zur Verfügung stehen.
Diesel entwirft so einen geschlossenen Kreislauf von Finanzierung, Produktion und Konsum von genossenschaftlichen Gütern, die weder in Konkurrenz zu anderen Produzenten treten noch auf Märkten auftauchen: „Die wahre Genossenschaft tritt gar nicht in die allgemeine Konkurrenz ein, weder für die Produktion noch für den Konsum, sie arbeitet lediglich für ihren eigenen Bedarf.“ Es geht also nicht um Gewinn, sondern um Bedürfnisbefriedigung, eine Art industrieller Subsistenzwirtschaft.
An den zur damaligen Zeit bestehenden Produktionsgenossenschaften wie der Glashütte Albi kritisierte Diesel, diese seien als allgemeine Betriebsform einer Volkswirtschaft undenkbar. Dies einfach aus dem Grund, „weil sie sich wegen ihrer meist ungenügenden Mittel gegen die übermächtige Konkurrenz der verschiedenen Formen großkapitalistischer Produktion oder kapitalistischer Vereinigung nicht halten können“. Sie seien nach innen zwar genossenschaftlich, nach außen aber kapitalistisch.
Rudolf Diesel: Sozialeinrichtungen ergänzen das Genossenschafts-Prinzip
Rudolf Diesel ergänzt sein Modell genossenschaftlichen Arbeitens durch Sozialeinrichtungen. So habe jeder „Bienenstock“, also jeder genossenschaftliche Betrieb, eine „geräumige, helle, gut ventilierte und geheizte Speiseanstalt“ zu errichten, in denen wohlschmeckende Speisen zu „Bienenpreisen“ angeboten werden, auch habe er für „gesunde, helle, luftige geräumige Wohnungen“ zu sorgen. Zudem seien Krankenhäuser, Schulen, Lehrlingswerkstätten und Gesellschaftshäuser „mit Restaurant und möglichst mit Garten“ zu errichten.
Es drängt sich hier die Idee des Betriebes als Lebensmittelpunkt auf, wie sie von realsozialistischen Ländern, aber auch von Großunternehmen in der Frühzeit des Kapitalismus bekannt ist. Doch der entscheidende Unterschied zu beiden ist die Freiwilligkeit. Im Unterschied zum Sozialismus sei der Solidarismus „im Rahmen bestehender Gesetze, in friedlicher Entwicklung bei vollkommener individuellen Freiheit“ zu erlangen, im Unterschied zum Kapitalismus beruht er nicht auf dem Spiel der Marktkräfte, sondern „auf dem natürlichen Spiel der solidarischen Kräfte“.
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