Geowissenschaften 12.11.2018, 06:51 Uhr

Erdbeben sollen sich bald viel früher vorhersagen lassen

Wenn es zu einem Erdbeben kommt, ist Zeit das kritischste Moment. Besonders empfindliche unterirdische Seismographen sollen deshalb im Vorfeld von Katastrophen Mikrobeben registrieren, aus deren Muster sich Prognosen ableiten lassen. Die Premiere findet im Großraum Istanbul statt.

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Foto: Deutsches GeoForschungsZentrum

Vor kurzem noch schien es aussichtslos, ein Frühwarnsystem für Erdbeben zu entwickeln das genügend Zeit lässt, um Menschen in Sicherheit zu bringen. Immerhin liegen die Vorwarnzeiten der heutigen Methoden im Sekundenbereich. Mit einer neuen Technologie, die deutsche Forscher jetzt vorstellten, könnte sich die Vorwarnzeit dem Stundenbereich nähern. Konkret würde das mehr Zeit für die Menschen vor Ort bedeuten, um Vorsichtsmaßnahmen zu treffen oder die Küstenregionen zu verlassen.

Bohrlochobservatorium betreibt Sensor-Netz in 300 Meter Tiefe

Zwar lassen sich Regionen, in denen Erdbeben zu erwarten sind, mit Sicherheit ausmachen. Wann ein solches Ereignis eintritt, weiß jedoch bisher niemand vorauszusagen. Es passiert so plötzlich, dass kaum Vorkehrungen möglich sind. Aus einer neuen Studie von Peter Malin und Marco Bohnhoff vom Deutschen Geoforschungszentrum (GFZ) in Potsdam geht jedoch hervor, dass es schon vor einem schweren Beben klare, wenn auch noch nicht eindeutige Indizien gibt. Es handelt sich um sogenannte Mikrobeben, die wegen ihrer Schwäche in normalen seismischen Stationen nicht registriert werden. Dem Bohrlochobservatorium Gonaf, das das GFZ gemeinsam mit türkischen Wissenschaftlern in der Nähe von Istanbul betreibt, entgeht dagegen nicht die kleinste Erschütterung. Es besteht aus einem Netz von Sensoren in einer Tiefe von 300 Metern.

Türkisches Mikrobebenmuster als „ermutigendes Feldbeispiel“

Den beiden GFZ-Forschern gelang es jetzt, die Bedeutung dieser Mibrobeben zu entschlüsseln. Sie befassten sich mit Daten vom Juni 2016, die die Station im Vorfeld eines Erdbebens im Süden der türkischen Metropole erfasste. Es hatte eine Stärke von 4,2 auf der Richterskala (wie Erdbeben gemessen werden, erfahren Sie hier). In den Stunden vor dem eigentlichen Beben nahmen die Mikrobeben deutlich zu. Das Muster, das sich aus den Beobachtungen ergibt, lässt auf bevorstehende Erschütterungen schließen. Allerdings ist der Zusammenhang noch nicht so eindeutig, dass das Mikrobebenmuster in ein Frühwarnsystem integriert werden könnte. Dazu seien weitere Tests und Messungen nötig, so die Wissenschaftler. „Die Ergebnisse basieren bisher nur auf einem – wenngleich ermutigenden – Feldbeispiel für eine Erdbebenvorbereitungssequenz“, so die Forscher. Um die Erkenntnisse abzusichern müssten in anderen Erdbebengebieten ähnliche Messstationen aufgebaut werden.

Vorwarnzeit liegt heute bei höchstens 30 Sekunden

Ähnlich wie in den meisten gefährdeten Regionen, gibt es derzeit auch im Großraum Istanbul ein Frühwarnsystem. Das ist jedoch auf die Ankunftszeiten seismischer Wellen des einsetzenden Hauptbebens angewiesen. „Hier ist die Frühwarnzeit typischerweise auf wenige Sekunden begrenzt,“ so Bohnhoff.

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Für die 15-Millionen-Metropole Istanbul wäre ein Frühwarnsystem mit einem Vorlauf von Stunden statt Sekunden extrem wichtig. Seit dem letzten schweren Beben im Jahr 1766, bauen sich in der Region unterirdisch Spannungen auf, weil die eurasische und die anatolische tektonische Platte auf einer Länge von 1.200 Kilometern zwischen der östlichen Türkei und der nördlichen Ägäis gegeneinander drücken.

Bisher sind japanische Forscher Spitze, wenn es um die Prognose von Erdbeben geht. Deren Frühwarnsystem basiert auf der Messung von so genannten P-Schockwellen, die an der Erdoberfläche nicht spürbar sind. Sie werden von einem Erdbeben ausgelöst und weisen darauf hin, dass sich in Kürze die zerstörerischen P-Wellen einstellen. Der Zeitgewinn liegt bei fünf bis 30 Sekunden. Das reicht natürlich nicht für Evakuierungen, wohl aber zum Herunterfahren von Kernkraftwerken und Anhalten von Hochgeschwindigkeitszügen.

Schutz vor Tsunamis ist eigentlich einfacher…

Tsunami-Frühwarnsysteme wie das in Indonesien, das GFZ-Forscher nach dem Tsunami von 2004 mit 230.000 Toten entwickelt haben, bieten eine deutlich längere Vorwarnzeit. Das liegt daran, dass die Ursache der Wellen, die an Land schwere Zerstörungen anrichten, Seebeben sind. Die dabei freigesetzten gewaltigen Kräfte werden mit mäßiger Geschwindigkeit durch das Meer bewegt, ehe sie sich in Küstennähe entladen. Es bleibt meist genügend Zeit, die Uferregionen zu räumen – vorausgesetzt, die Warnung kommt an und wird in Evakuierungsmaßnahmen umgesetzt. An genau diesem Punkt dürfte sich die größte Kritik an den neuesten Forschungsergebnissen entladen.

Denn auch wenn die Vorwarnzeit Stunden beträgt, ist das keine Garantie für effektive Rettungsmaßnahmen. Dazu muss die Warnung bei den Rettungskräften ankommen und ernst genommen werden. Skeptiker mögen auf den jüngsten Tsunami an Indonesiens größter Insel Sulawesi verweisen. Obwohl das mit maßgeblicher deutscher Hilfe aufgebaute Frühwarnsystem die verheerenden Wellen korrekt vorhergesagt hatte, kamen dort Anfang Oktober 1.400 Menschen ums Leben. Jörn Lauterjung vom Geoforschungszentrum Potsdam hat das 1 Million Euro teure Tsunami-Frühwarnsystem in Sulawesi mit aufgebaut, das „einwandfrei und planmäßig funktioniert“ habe an diesem Tag. So sagte es der Geowissenschaftler im ARD-Morgenmagazin. Dass daraus allerdings nicht die richtigen Schlüsse auf lokaler Ebene gezogen wurden, sei „nicht nur frustrierend, sondern auch eine ziemlich bedrückende Situation für mich persönlich“. Das Fazit könne nur sein, dass man die Administration und Medien auf lokaler Ebene stärker schulen müsste im Umgang mit dem technischen System.

Details zum Monitoring-Projekt um Istanbul erläutert Marco Bonhoff hier:

Welche Technik schützt bei Erdbeben? Von baulichen Maßnahmen bis zur Rettung von Menschenleben.

Ein Beitrag von:

  • Wolfgang Kempkens

    Wolfgang Kempkens studierte an der RWTH Aachen Elektrotechnik und schloss mit dem Diplom ab. Er arbeitete bei einer Tageszeitung und einem Magazin, ehe er sich als freier Journalist etablierte. Er beschäftigt sich vor allem mit Umwelt-, Energie- und Technikthemen.

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