Friedrich-Ebert-Stiftung: Tagung 09.12.2011, 12:03 Uhr

Fortschritt und Wachstum neu definieren

Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Steigerung der Lebenszufriedenheit und ökologische Nachhaltigkeit machen nach einer aktuellen Untersuchung für junge Deutsche heute Fortschritt aus. Vielen Teilnehmern einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung erschien dieser Fortschrittsbegriff jedoch als zu wachstumsskeptisch.

Der Bundestag hat eine Enquete-Kommission eingesetzt – und niemand bekommt es mit. Vor ziemlich genau einem Jahr schon wurde die bislang 27. Kommission mit dem sperrigen Titel „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der sozialen Marktwirtschaft“ bestimmt. Dass die prominent besetzte Kommission mit ihren 17 parlamentarischen und 16 sachverständigen Mitgliedern seit Januar arbeitet, hat bislang kaum Wellen geschlagen.

Ein konkretes Vorhaben ist die Entwicklung eines neuen Wohlstandsindikators, der den traditionellen Blick auf das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes ablöst und eine größere Reichweite hat, also beispielsweise auch soziale und ökologische Kriterien berücksichtigt – und dabei nicht so gestrickt ist, dass das Ergebnis von vornherein positiv ausfällt. Im Hintergrund steht die Frage, wie wir angesichts der aktuellen Krisenszenarien heute Fortschritt verstehen.

Friedrich-Ebert-Stiftung lotet „Perspektiven für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt“ aus

In der vergangenen Woche hat die Friedrich-Ebert-Stiftung auf einer Tagung die „Perspektiven für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt“ ausgelotet. Die SPD-nahe Stiftung hat zusammen mit der Hans-Böckler-Stiftung des Deutschen Gewerkschaftsbundes ein „Fortschrittsforum“ gegründet, das eigene Beiträge über die künftige Entwicklung der Gesellschaft in die Debatten der Bundestags-Enquete-Kommission einspeisen möchte. Dafür haben sich die beiden Stiftungen Input von jungen Wissenschaftlern geholt, der auf der Tagung kontrovers diskutiert wurde.

Wie blicken wir heute auf das Wachstum, fragten etwa Matthias Ecke und Sebastian Petzold, beide wissenschaftliche Mitarbeiter von SPD-Bundestagsabgeordneten. Sie haben eine Übersicht über miteinander konkurrierende Wachstumsverständnisse aufgestellt. Dabei gehe es immer auch um die Deutungshoheit über die Vorstellungen von Wachstum.

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Wissenschaftler sehen vier zentrale Formen des Wachstums

Vier Deutungsstrategien haben die beiden Wissenschaftler ausgemacht. Der bislang dominierende „liberale Wachstumsoptimismus“ habe auf Wirtschaftswachstum um (fast) jeden Preis gesetzt, mit dem alle Probleme gelöst werden könnten. Die zunehmend wichtige Vorstellung eines „grünen Wachstums“ setze dem neoliberalen Denken das Element der Nachhaltigkeit entgegen. Ganz anders, nämlich mit negativen Vorzeichen, würde das „Postwachstums“-Denken das Wachstum sehen – als Quelle allen Übels. Einen möglichen Mittelweg skizzierten Ecke und Petzold schließlich mit der Idee eines „sozialen Wachstums“. Ein Gleichgewicht zwischen guten Arbeitsplätzen sowie einer ökonomischen und ökologischen Nachhaltigkeit zeichnen diese Vorstellung aus.

Hier schloss der Beitrag von Frederik Beck (Redakteur des Fortschrittsforums) und Max Neufeind (ETH Zürich) an, die die Fortschrittsvorstellungen von jungen Deutschen untersucht haben. Dabei sind sie auf einen „neuen Fortschrittsbegriff“ gestoßen, dessen drei zentrale Elemente die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Steigerung der Lebenszufriedenheit und ökologische Nachhaltigkeit seien – also alles Elemente eines „sozialen Wachstums“. Für die Anhänger dieses neuen Fortschrittsbegriffes hätten sich wirtschaftliches Wachstum, technischer Fortschritt und der Verbrauch der Ressourcen voneinander abgekoppelt. Wachstum allein könne das soziale Auseinanderdriften der Gesellschaft nicht aufhalten, der technologische Fortschritt allein die wachsenden Umwelt- und Klimaprobleme nicht mehr lösen, so die Ansicht – und wohl auch die Lebenserfahrung – junger Menschen.

Dies stieß in der Diskussion auf Widerspruch. Zu wachstumsskeptisch erschien vielen das Szenario, das von Beck und Neufeind entworfen wurde. Die Diskussion krallte sich an einer Frage fest: Brauchen wir in jedem Falle Wachstum? Oder kann (oder muss) diese Gesellschaft lernen, künftig mit einem Nullwachstum zu leben?

Fortschritt und Wachstum ermöglichen Wohlstand und Zukunftschancen für alle

Ohne Wachstum sei es nicht möglich, dem unteren Teil der Gesellschaft Wohlstand und Zukunftschancen zu ermöglichen, argumentierte Michael Vassiliadis, Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bergbau-Chemie-Energie. „Innovation und Wachstum müssen nur so gestaltet werden, dass Parameter entstehen, die Problemlöser sind und nicht immer neue Probleme schaffen“, meinte er.

Langfristig sei in den westlichen Industriestaaten nur noch mit niedrigen oder gar keinen Wachstumsraten zu rechnen, hielt dem aus dem Publikum Norbert Reuter entgegen, Ökonom bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und Privatdozent an der RWTH Aachen. Viel stärker gehörten daher Fragen der Verteilung und der Verteilungsgerechtigkeit auf die Tagesordnung.

Begriffe wie Gerechtigkeit, Gleichheit und Verzicht waberten durch den Vortragsraum der Friedrich-Ebert-Stiftung. „Verzicht“ ist in diesem Zusammenhang indes nicht Forderung, sondern Faktum: Schließlich haben in Deutschland die untersten 30 % der Lohneinkommensbezieher seit der Jahrtausendwende Reallohneinbußen von durchschnittlich 11 % hinnehmen müssen, erinnerte Vassiliadis – womit sich Deutschland unter den OECD-Staaten am Ende auf der Skala der Lohnzuwächse wiederfinde.

Dass sich der Bundestag aus dem Klein-Klein der Tagespolitik in die Höhen allgemeinerer Fragestellungen erhebt, ist verdienstvoll. Doch sollte sich die Kommission am Ende ihrer Arbeit auch zu klaren Handlungsanweisungen durchringen. Wo die Probleme liegen, das kann so strittig eigentlich nicht mehr sein. In Verbindung mit der Finanz- und Eurokrise fällt dieser Tage häufig der Begriff von der Renaissance der Politik, die nach Jahren der Tatenlosigkeit endlich Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit demonstriere. Eine solche Tatkraft wäre auch angesichts des Auseinanderdriftens der Gesellschaft und der fragwürdigen Zukunftsperspektiven großer Teile der kommenden Generationen zu wünschen.

„In diesem Land gibt es keinen Mangel an Erkenntnissen, sondern einen Mangel an politischen Entscheidungen.“ Der dies beim Fortschrittsforum in der Friedrich-Ebert-Stiftung mit Blick auf die Verwerfungen am oberen und unteren Ende der Gesellschaft beklagte, war ausgerechnet der Hamburger Unternehmer und Multimillionär Michael Otto.

Ein Beitrag von:

  • Johannes Wendland

    Johannes Wendland ist freier Journalist und schreibt für überregionale Magazine, Zeitungen und Online-Medien u.a. über Wirtschaftsthemen, Raumfahrt und IT-Themen.

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