Führt der Videobeweis zu mehr Fairness im Sport?
Die Olympischen Spiele in Paris 2024 haben begonnen. Der Videobeweis soll auch hier für gerechte Entscheidungen im Sport sorgen. Doch neue Forschungsergebnisse zeigen, dass Aufnahmen in Zeitlupe nicht immer helfen und sogar Fehleinschätzungen fördern können.
Egal ob Fußball, Tennis oder Leichtathletik – in vielen Sportarten kommt heutzutage modernste Videotechnik zum Einsatz, um strittige Situationen aufzuklären. War es Abseits? War der Ball im Aus? Hat die Athletin beim Hochsprung die Latte berührt? All diese Fragen sollen mithilfe des Videobeweises geklärt werden, um am Ende gerechte Ergebnisse zu erzielen. Doch erfüllt die Technik dieses Versprechen?
Der Videobeweis ist seit seiner Einführung höchst umstritten im Sport. Einerseits können die Aufzeichnungen Schiedsrichter und Schiedsrichterinnen in ihren Entscheidungen unterstützen, andererseits können sie sie auch beeinflussen. Das zeigen nun neue Forschungsergebnisse. Danach sollen Aufnahmen in Zeitlupen dazu verleiten, Spielern mehr Absicht zu unterstellen und Fouls härter zu bestrafen. Die Forschung versucht zu verstehen, wie dieser Effekt zustande kommt.
Zeitlupen im Videobeweis beeinflussen die Wahrnehmung
Ob der Videobeweis hilfreich ist oder nicht, hänge vor allem von der jeweiligen Situation ab, erklärt Laura Sperl, Wissenschaftlerin und Dozentin für Psychologie an der Fern-Universität Hagen. Geht es darum festzustellen, ob ein Ball im Feld war oder wer zuerst die Ziellinie überquert hat, könne der Videobeweis fraglos zur korrekten Entscheidung beitragen.
Anders sähe es jedoch aus, wenn Fouls oder Handspiele beurteilt werden sollen. Denn die Betrachtung von Zeitlupen beeinflussen nachweislich die Wahrnehmung von Schiedsrichtern und Schiedsrichterinnen.
In einem Experiment ließen Sperl und ihr Team Probanden und Probandinnen verschiedene Szenen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten bewerten. Das Ergebnis: Wurde eine Aktion in Zeitlupe gezeigt, unterstellten die Teilnehmenden den Handelnden häufig eine größere Absicht und sprachen härtere Strafen aus.
Videobeweis suggeriert in manchen Situationen mehr Absicht
„Wir haben festgestellt, dass die Probandinnen und Probanden nur sehr schwer einschätzen konnten, wie sehr ein Video in seiner Geschwindigkeit verändert wurde.“ Bei einer Szene, die in der Realität gerademal zwei Sekunden und in Zeitlupe dann acht Sekunden dauerte, haben die Teilnehmenden die Originalszene in der Regel länger als zwei Sekunden eingeschätzt. Das heißt, der deutliche Zeit-Unterschied von sechs Sekunden ist kaum aufgefallen.
„Die Experimente haben gezeigt, dass Handelnden unbewusst mehr Absicht unterstellt wird, wenn man Szenen in Zeitlupe anschaut. Es wird angenommen, dass die Betrachtenden den fälschlichen Eindruck bekommen, dass den Handelnden mehr Zeit zur Verfügung stand und sie dadurch ihre Handlung planen. Sie scheinen zwischen mehreren Entscheidungsoptionen abgewogen und sich bewusst für diese eine entschieden zu haben“, sagt Sperl.
Das bedeutet, der Schiedsrichter oder die Schiedsrichterin könnte bei der Betrachtung der Zeitlupe eher den Eindruck erhalten, dass der oder die Handelnde bewusst den Ellenbogen in Richtung des Gegners ausgefahren hat.
Videobeweis lässt echte Absicht im Unklaren
Die Geschwindigkeit des Geschehens beeinflusst damit die Interpretation der Handlung. Dann gilt es zu entscheiden: War es Absicht oder eine natürliche Körperhaltung in der Bewegung. „In unserer Forschung können wir zwar feststellen, dass den Handelnden in Zeitlupe mehr Absicht unterstellt wird. Ob die ‚echte‘ Intentionalität jedoch besser in der Zeitlupe oder in der realen Geschwindigkeit zu erkennen war, können wir nicht sagen“, erklärt die Psychologin.
Interessanterweise schätzten die Probanden und Probandinnen die Absicht in Zeitlupenaufnahmen auch dann noch höher ein, wenn ihnen das Ausmaß der Verlangsamung der Szene bekannt war. „Wir versuchen gerade zu verstehen, warum das Gehirn anscheinend zwar die Zeit umrechnen kann, die Absicht aber nicht.“ Um dies zu ergründen, plant Sperl weitere Untersuchungen.
Weitere Experimente zum Videobeweis
Zur Erforschung dieser Fragen sind vor allem weitere Experimente vorgesehen. Dabei führt die Wissenschaftlerin unter anderem auch Studien mit Studierenden der Fern-Universität Hagen durch. Als Lehrkraft für besondere Aufgaben betreut Sperl im Bachelor Psychologie außerdem das empirisch-experimentelle Praktikum.
Abschließend gibt die Psychologin folgenden Rat für die Olympischen Spiele: „Man sollte sich bei Videobeweisen immer bewusst machen, dass es diesen Bias bei Zeitlupen gibt.“ Dies gelte sowohl für Laien vor dem Fernseher als auch für Expertinnen und Experten in den Sportverbänden, die in den jeweiligen Situationen entscheiden oder die Regelwerke erstellen.
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