Kunstmuseum Wolfsburg 27.01.2012, 12:01 Uhr

Henri Cartier-Bresson: „Am Anfang war die Geometrie“

Während die Bibel dem Menschen am Anfang das „Wort“ verheißt, markierte für Henri Cartier-Bresson die „Geometrie“ den Anfang. Und so wäre es nicht verwunderlich, wenn über dem Eingang zur Ausstellung „Die Geometrie des Augenblicks“ im Kunstmuseum Wolfsburg Platons Zitat und gleichzeitig auch der Titel eines Cartier-Bresson-Interviews von 1974 in Le Monde stünde

Diese Eintrittsbeschränkung findet sich jedoch nirgends, denn Henri Cartier-Bresson verfolgte mehr als nur die Geometrie in seinem Œuvre, das es auch zu entdecken gilt in der Präsentation von rund 100, in den Jahren 1933 bis 1999 entstandenen Schwarz-Weiß-Landschaftsfotografien, die der Künstler noch persönlich als „Paysages“ zusammenstellte. Die Ausstellung wurde in Kooperation mit der Fotoagentur „Magnum Photos“ und der 2003 ins Leben gerufenen „Fondation Henri Cartier-Bresson“ realisiert.

Der amerikanische Fotograf Walker Evans (1903-1975), ein Zeitgenosse Cartier-Bressons, bezeichnete ihn als „einen der wenigen Erneuerer der Photografie“ des 20. Jahrhunderts. Dabei wollte Henri Cartier-Bresson ursprünglich Maler werden und studierte bei André Lhote, dessen Kunst den Kubismus mit klassischem Realismus verband. Lhotes ästhetisches Reglement besonders des Bildaufbaus und Einflüsse befreundeter Surrealisten prägten sowohl Cartier-Bressons Gemälde als auch seine frühe Fotografie der 1930er-Jahre noch maßgeblich, schwächten sich aber mit zunehmender künstlerischer Eigenständigkeit ab, verloren jedoch nie ganz an Bedeutung für seine Fotografie.

Während einer einjährigen Afrikareise im Jahr 1930 gelangte Cartier-Bresson zu der Einsicht: „Der Abenteurer in mir fühlte sich verpflichtet, mit einem schnelleren Medium als dem Malerpinsel Zeugnis abzulegen von den Narben der Welt.“ Die Malerei gab er auf. Ein kurzes Intermezzo führte ihn in die Filmbranche, wo er die Grundlagen der Filmregie vom Fotografen und Dokumentarfilmer Paul Strand lernte. Er arbeitete als Assistent für Jean Renoir und drehte drei eigene Dokumentarfilme.

Aber sein weiteres Leben bestimmte die Fotografie. So entschied er sich nach dem Zweiten Weltkrieg, motiviert durch Robert Capa, für den Fotojournalismus. Seine vorherigen Aktivitäten bezeichnete er als „Rumspielerei“. Henri Cartier-Bresson probierte diverse Fotoapparate aus, bis er 1932 in Marseille eine Leica entdeckte. Für ihn war sie „die Kamera“ und die „optische Verlängerung“ seines „Auges“. Mit ihr konnte er sich „dem Sujet auf Samtpfoten nähern…, aber das Auge geschärft“.

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Im Jahr 1914 von Oskar Barnack als Ur-Leica für die Ernst Leitz-Werke in Wetzlar entwickelt, aber erst ab 1925 im Handel, ermöglichte diese Kleinbildkamera mit dem Bildformat 24 mm x 36 mm aufgrund ihrer Leichtigkeit, der einfachen und diskreten Handhabung sowie ihrer hochpräzisen Optik die Entwicklung eines dynamischen Fotojournalismus.

Cartier-Bresson verinnerlichte den gelungenen Bildaufbau für seine Fotografien

Cartier-Bresson hatte das Empfinden für einen gelungenen Bildaufbau verinnerlicht. Er komponierte seine Bilder, indem er im „entscheidenden Augenblick“ auslöste. Darum beließ er seine Negative auch stets als Ganzes, beschnitt sie nicht und verlangte bei ihrer Reproduktion den für ihn typischen, heute noch rechtlich bindenden schwarzen „Trauerrand“ um seine Bilder.

Auch um Manipulationen an ihren Fotografien zu verhindern, vor allem aber um die Urheberrechte an diesen zu wahren, gründeten Henri Cartier-Bresson, Robert Capa, George Rodger, David Seymour und William Vandivert 1947 die inzwischen legendäre, noch heute existierende Fotoagentur „Magnum Photos“.

Unter den rund 100 Schwarz-Weiß-Fotos erwarten den Besucher in einer farblich dezent grau-grün gehaltenen geometrischen Architektur viele Ikonen: Allen voran „Kaschmir, 1948“ mit den vor der aufgehenden Sonne betenden muslimischen Frauen. Die allbekannte Rückenansicht dreier junger Männer mit Blick über die Berliner Mauer von 1962. Der akrobatische und gespiegelte Sprung eines Mannes über die unter Wasser stehende „Place de l’Europe, Paris 1932“, dessen Silhouette man glaubt, auf einem Zirkusplakat im Rücken des Springers wiederzuerkennen. Das Kleinkind als Trophäe auf der Hand seines Vaters, während sich im Hintergrund die friedliche Landschaft des Sewansees in Armenien 1972 ausdehnt. Die mit Licht und Schatten geometrisierte Piazza del campo in Siena 1933. Der ebenfalls durch unterschiedliche Linien sowie durch von der Sonne angestrahlte und verschattete Flächen kubistisch sezierte Hinterhof in Rom 1952, in dessen Mitte ein Mädchen von einem rechteckigen Lichtfleck wie in einem „Hüpfkästchen“ eingefangen ist. Diese Werke belegen Cartier-Bressons Ausspruch „Für mich ist die Fotografie der Rhythmus von Flächen, Linien und Tonwerten“ bildhaft.

Cartier-Bresson: „Meine Leica hat mir gesagt, dass das Leben unmittelbar und rasant ist.“

„Meine Leica hat mir gesagt, dass das Leben unmittelbar und rasant ist.“ Versehen mit Weitwinkel- und Teleobjektiv, meist aber bestückt mit einem 50-mm-Standardobjektiv, das der menschlichen Sichtweise am nächsten kommt, und einem 30-Aufnahmen-Film ermöglichte ihm die Kamera blitzschnelles Handeln und seine meisterhaften „entscheidenden Augenblicke“. Für diese muss der Fotograf „im Sekundenbruchteil die Bedeutung einer Tatsache und die Strenge Organisation der visuell wahrgenommenen Formen, die diese Tatsache ausdrücken, erkennen“.

Dabei kann er den Inhalt nicht von der Form trennen. Er muss genau im richtigen Augenblick auf den Auslöser drücken und „instinktiv die geometrischen Orte festhalten“, die dem Foto Form und Leben verleihen. Diese Arbeit erfordert eine permanente geistige und körperliche Mobilität, „denn wir sind jenen flüchtigen Augenblicken unterworfen, da alle Bezüge in Bewegung sind. Um den Goldenen Schnitt anzuwenden, muss man sich auf den Kompass im Auge verlassen“, schrieb Cartier-Bresson im Vorwort zu seinem 1952 erschienenen Fotoband „Images à la sauvette“. Und auf diesen Kompass konnte er sich verlassen bei all seinen Reisen durch Europa, Mexiko, Indien, China, Indonesien, die damalige Sowjetunion und die USA, wie seine „Paysages“ beweisen.

Als didaktische Entsprechung erweist sich in Wolfsburg die von der Auricher Fotokünstlerin Frauke Eigen konzipierte Hängung. In dieser deckt sie fortlaufend die den Fotos innewohnenden Beziehungen durch formale, strukturale, aber auch motivische Analogien auf. So kann der Betrachter die einzelnen Bilder anschauen wie aneinander gereihte Perlen einer Kette. Zu deren kostbaren Verschluss sind sieben Lithografien des Künstlers aus dem Besitz seiner Witwe Martine Frank vereint.

Cartier-Bresson wendet sich zwei Jahre vor seinem Tod dem Zeichnen zu

Denn in seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten – er starb 2004 – hatte sich Cartier-Bresson fast völlig von der Fotografie verabschiedet und dem Zeichnen zugewandt. Für ihn war das „Photo unmittelbare Aktion, die Zeichnung hingegen Meditation“, wie er 1992 schrieb. „Nun, da ich angefangen habe zu zeichnen, habe ich nur das Werkzeug gewechselt, was zählt, ist mir immer noch der Blick.“ 

Ein Beitrag von:

  • Eckart Pasche

    Freier Fachjournalist. Themenschwerpunkte: Energie, Kerntechnik, Rohstoffe, Bergbau, Tunnelbau, Technikgeschichte

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