Hightech am Hang macht Lawinen berechenbarer
Das Testgelände für Lawinendynamik nahe Sion ist mit robusten Sensoren zur Geschwindigkeits- und Kraftmessung ausgestattet. Hier kombinieren Wissenschaftler und Ingenieure die Messwerte aus der Bahn künstlich ausgelöster Lawinen mit Fernerkundungsmethoden und erhalten Simulationsprogramme zum Schutz von Mensch, Umwelt und Gebäuden.
Ein traumhafter Wintertag im Vallée de la Sionne im Wallis – wäre da nicht der knatternde Hubschrauber, der direkt auf den steilen, tief verschneiten Hang zufliegt. An einem Seil setzt er etwas auf der Schneedecke ab und fliegt weg zwei Minuten später hallt ein lauter Knall durch das Tal – und die Schneedecke kommt in Bewegung.
Eine Lawine rast den Hang hinunter, bis zu 200 km/h schnell, beobachtet von rund 20 Wissenschaftlern aus ganz Europa. Der Schnee prallt am Fuß des Hangs auf einen massiven, mehrere Meter hohen Betonkeil und ein Stahlgerüst beide sind bestückt mit Messgeräten, die Druck, Temperatur und Dichte registrieren.
Die Lawine rast weiter, ein Stück den Gegenhang hinauf, wo ein niedriger Betonbunker steht. Hinter den offenen Fenstern sieht man weitere Forscher mit Kameras und Radargeräten, wie sie auch Polizisten zur Geschwindigkeitskontrolle verwenden. Erst kurz bevor der Schnee das kleine Gebäude erreicht, klappen sie die Fensterläden zu als Lawinenforscher braucht man wohl mitunter starke Nerven.
Künstlich ausgelöste Lawinen kosten zwischen 10 000 und 20 000 CHF
So eine künstlich ausgelöste Lawine ist eine seltene Gelegenheit, die Dynamik rasender Schneemassen im Gelände zu beobachten und jede Menge Daten zu sammeln. Das Wetter muss stimmen, weder Wanderer noch Gämsen dürfen im Versuchsgelände unterwegs sein – und das Ganze kostet je nach Messprogramm 10 000 bis 20 000 CHF. Nur die fest installierten Messgeräte arbeiten auch automatisch und übermitteln ihre Daten an das Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos, wenn eine natürliche Lawine abgeht.
Damit das passiert, muss die Schneedecke an einem ausreichend steilen Hang eine sogenannte Schwachschicht enthalten, auf der eine weitere Schneeschicht liegt. Eine Schwachschicht kann aus klassischem Pulverschnee bestehen, oder eine dünne Schneedecke wird durch sehr kaltes Wetter mit der Zeit brüchig. Wenn dann noch ein Auslöser die Schwachschicht zusammenbrechen lässt, kommt der Schnee in Bewegung. Das kann eine Sprengladung sein, mit der Lawinen auch ausgelöst werden, um Skigebiete zu sichern, ein Skiwanderer oder einfach das zunehmende Gewicht der Schneedecke bei andauerndem Schneefall oder durch Schneeverwehungen. Der Überschallknall eines Flugzeugs, ein Schuss oder lautes Rufen können Lawinen hingegen nur im Spielfilm auslösen.
Die Dynamik rasender Schneemassen untersuchen Forscher am SLF seit Jahrzehnten. Etwa mit einer Schneerutsche am Weißfluhjoch in der Nähe von Davos. „Wir lassen 10 m3 Schnee ins Rutschen kommen, das entspricht etwa zwei oder drei Stunden Schneeschaufeln,“ erzählt Lawinenforscher Perry Bartelt. Je nach Neigungswinkel, Temperatur und Wassergehalt rutscht der Schnee unterschiedlich schnell und weit. Solche Daten sind wichtig für Lawinenwarndienste, die im Winter täglich ihre Bulletins veröffentlichen.
Lawinenforschung lässt sich auch digital durchführen
Im Labor lassen die Forscher auch „Modellschnee“ aus Glaskügelchen auf einer 10 m langen und 50 cm breiten Labor-Lawinenbahn abrutschen die Größe der Kügelchen entspricht maßstabsgerecht der Größe typischer Schneeballen in einer Lawine. Damit können Geschwindigkeit und Reichweite möglicher Lawinen oder die Wirkung von Lawinenverbauungen in einem bestimmten Gelände ermittelt werden. Sofern für dieses Gelände 3-D-Satellitenaufnahmen vorliegen, lassen sich solche Experimente allerdings auch digital durchführen, mithilfe des Computermodells RAMMS (Rapid Mass Movements).
Sobald der Schnee per Mausklick in Bewegung kommt, breitet er sich in bunten Farben auf dem digitalen Gebirgshang aus wie ein Ölfleck auf dem Wasser. Die Farben symbolisieren wahlweise die Höhe der Lawine, den Druck oder die Geschwindigkeit des Schnees. RAMMS ist allerdings kein Werkzeug für die tägliche Prognose Lawinenwarndienste nutzen es, um Gutachten oder Risikokarten zu erstellen, etwa wenn Orte in den Alpen ein neues Baugebiet ausweisen möchten.
Das SLF stellt ein Programm zur Verfügung und schult Anwender aus aller Welt. „Wir wollen, dass die Leute die Berechnungen für ihre Lawinen selbst durchführen. Sie kennen Windverhältnisse, wissen wie viel Schnee es gibt und ob er nass oder trocken ist.“
Einige solcher Berechnungen müssen vielleicht in den nächsten Jahren aktualisiert werden. Denn mit dem Klimawandel verändern sich auch die Schneeverhältnisse. Es gibt mehr Nassschneelawinen, die langsamer sind, aber genauso weit reichen wie Trockenschneelawinen, und durch ihr hohes Gewicht größere Zerstörungen anrichten.
Auch Bodenanalysen machen Lawinen berechenbarer
„Eine Nassschneelawine kann problemlos den Wald zerstören. Was für eine Schutzfunktion der Wald noch hat, wenn das Klima sich ändert, ist eine wichtige Frage,“ sagt Bartelt. Besonders gefährlich sind auch sogenannte Gleitschneelawinen, die nicht auf einer darunterliegenden Schneeschicht abrutschen, sondern direkt auf dem Boden.“Wenn der Boden relativ warm ist, kann der Schnee unmittelbar am Boden feucht werden und diese Gleitbewegungen möglich machen“, erklärt sein Kollegen Stephan Harvey. Lawinenforscher müssen also auch den Boden in ihre Analysen mit einbeziehen, um für die Lawinenwarndienste Prognosemethoden auch für diesen Lawinentyp zu entwickeln.
Lawinenforscher müssen also künftig auch den Boden in ihre Analysen mit einbeziehen, um für die Warndienste Prognosemethoden auch für diesen neuen Lawinentyp zu entwickeln. „Wir müssen vorbereitet sein“, mahnt Bartelt. „Der Klimawandel wird einen großen Einfluss auf die Schneeforschung haben.“
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