Kieselalgen liefern Konstruktionsplan für Fundamente von Windrädern
Winzige Lebewesen aus dem Ozean standen Pate für die Gründungsstrukturen der riesigen Windkraftanlagen, die ab 2012 in der Deutschen Bucht aufgestellt werden sollen. Dafür erforschen Wissenschaftler des Bremerhavener Instituts Imare die Silikatkonstruktionen von Kieselalgen und Strahlentierchen.
Die Modelle auf dem Schreibtisch von Christian Hamm sehen ein wenig aus wie futuristische Bauwerke und Raumfahrzeuge aus Science-Fiction-Comics. Dreibeine aus kühn im Bogen geschwungenen Rohren tragen Kugeln aus filigranen Gitterkonstruktionen und stützen senkrecht nach oben strebende Spitzen.
Tatsächlich sind die Modelle ein Stück Zukunft, beileibe aber keine Fiktion: „So ähnlich könnten die Tragstrukturen für die großen Windkraftanlagen aussehen, die vor der deutschen Küste gebaut werden“, erläutert Hamm, der sich zunächst am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) und jetzt am Institut für marine Ressourcen Imare mit Diatomeen – so der wissenschaftliche Name für Kieselalgen – beschäftigt.
Kieselalgen: Modelle für statische Konstruktionen und Skelette
Anfang des 20. Jahrhunderts begann der Bremer Lehrer Friedrich Hustedt mit dem Aufbau einer Diatomeen-Sammlung. Mittlerweile umfasst das Archiv über 80 000 verschiedene Kieselalgen aus aller Welt. Am sogenannten Hustedt-Arbeitsplatz im AWI sind die Probenröhrchen ein nahezu unerschöpflicher Quell an Ideen und Anregungen – unter dem Mikroskop zeigen die Winzlinge einen Reichtum an statischen Konstruktionen und Skeletten, wie ihn kein Architekt ersinnen kann.
Der gemeinsame Nenner aller von der Evolution in Millionen Jahren geschaffenen Strukturen: mit einem Minimum an Materialeinsatz ein Maximum an Stabilität zu erreichen. Und das macht sie nun auch für die Industrie interessant: „Leichtbau ist an vielen Stellen gefragt, um den Materialeinsatz zu verringern, bessere Produkteigenschaften zu erreichen oder um zum Beispiel im Automobilbau durch ein geringeres Gewicht den Energieverbrauch zu senken“, erläuterte Hamm.
Die biologische Evolution soll dabei die technische Revolution vorantreiben: „Die Nutzung biologischer Strukturen, die bereits durch die Natur optimiert wurden, führt unter Umständen zu anderen und besseren Ergebnissen als der Versuch, solche Formen am Computer zu konstruieren“, sagte der Bioniker.
Wer Kieselalgen als Vorbild für industrielle Produkte nutzen will, muss allerdings genau hinsehen. Denn Diatomeen sind gerade mal 30 µm bis 100 µm, also maximal ein Zehntelmillimeter groß.
Unter dem Elektronenmikroskop offenbart sich aber eine Vielzahl von Figuren: Sterne, Waben, Bögen und Halbbögen, die sich zu äußerst komplexen Strukturen zusammengefunden haben. Die Figuren sind das Ergebnis einer natürlichen Auslese. In der Meereswelt haben die Diatomeen ihre eigene Schutztaktik entwickelt: „Sie haben sich mit einem Panzer umhüllt, der eine außerordentliche Festigkeit aufweist“, erläuterte Hamm.
Kieselalgen dienen bereits als Vorbild für ein Reihe industrieller Produkte
Als Grundlagenforscher am AWI arbeitet Hamm seit Jahren daran, Algenstrukturen zu entschlüsseln. Und am Imare als Zentrum für die angewandte Forschung überführt er gemeinsam mit einem Team von Wissenschaftlern und Ingenieuren die Grundlagenerkenntnisse in industrielle Anwendungen.
Und das mit Erfolg: Eine kohlenstofffaserverstärkte Autofelge, eine Kunststoffwaben-Struktur als Ersatz für den klassischen Gipsverband bei Knochenbrüchen sowie das ultraleichte Innenleben für eine Kopfstütze am Autositz gehören zu den serienreifen Produkten, die bereits auf Basis der meeresbiologischen Erkenntnisse entstanden sind.
Nun haben Hamm und seine Kollegen einen neuen Plan: Sie wollen Gründungsstrukturen für die riesigen Windkraftanlagen entwickeln, die ab 2012 in der Deutschen Bucht aufgestellt werden. Die stählernen Fundamente müssen viele hundert Tonnen Gewicht tragen und zugleich den enormen Belastungen aus der Windkraft und den rotierenden Flügeln widerstehen. Entsprechend groß und schwer sind die bislang als Traggestell vorgesehenen Stahlstrukturen.
Schalentiere als Fundament für Windkraftanlagen
Angesichts der hohen Material- und Baukosten hat sich das Imare-Team ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: „Es ist möglich, das Gewicht dieser Strukturen um 40 % zu reduzieren“, ist Hamm überzeugt.
Seine Hoffnungen ruhen auf einem Strahlentierchen: dem Einzeller Clathrocorys, dessen dreibeiniges Skelett aus Siliciumdioxid an die erwähnten Science-Fiction-Bauwerke erinnert. Die Bremerhavener Forscher untersuchten die mechanischen Eigenschaften des Winzlings, unterzogen ihn sogar Crashtests und ergründeten die Konstruktionsprinzipien von Clathrocorys.
Mit durchschlagendem Erfolg: In einer Simulationsrechnung spielt Hamms Team jetzt selbst Evolution. Am Computer wählen die Forscher unterschiedliche Strahlentieren aus, berechnen sie, „kreuzen“ sie miteinander und schauen dann, wie sich die Nachkommen entwickeln. Aus jeder neuen Generation werden die Exemplare ausgesucht, die am ehesten den Anforderungen für den Einsatz als Fundament für Windkraftanlagen genügen.
„Elise“ heißt das entsprechende Verfahren – Evolutionary Light Structure Engineering. Der englische Begriff lässt erkennen, dass die Bremerhavener Forscher nicht allein an dem Vorhaben sitzen. Mit „Planktontech“ steht ihnen ein internationales Forschernetzwerk bei, zu dem neben weiteren deutschen Instituten und Universitäten u. a. auch die Harvard University zählt.
Bei ihren computergestützten Experimenten sind die Forscher bereits weit gekommen. Hamms letztes Modell hat mit Science Fiction nicht mehr viel zu tun: Es trägt bereits eine Windkraftanlage im Miniformat.
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